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Das Jahr 2020 markiert ein grandioses Jubiläum: Zum 100. Mal jährt sich die Veröffentlichung von Mises‘ Theorem der Unmöglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung – die wohl bedeutendste sozial-wissenschaftliche Mustervorhersage aller Zeiten (Mises 1920). Alle ursprüngliche Kritik daran hat das liberale Gedankengebäude nur noch stärker gemacht. Ließ doch die Sozialismusdebatte auch Hayek zur Hochform auflaufen, indem er erst im Zuge dieser Kontroverse die Bedeutung des Wissensproblems für das soziale Gefüge in vollem Umfang erkannte und so als tiefe Begründung für eine dezentrale Ordnung in den Mittelpunkt rückte: 100 Jahre „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“ sind eben auch 75 Jahre „The Use of Knowledge in Society“ (Hayek 1945) oder 83 Jahre „Economics and Knowledge“ (Hayek 1937), was derzeit nur wegen der krummen Jahreszahl weniger zum Feiern taugt.

 

Trotz intellektueller Erfolge auf ganzer Linie und erdrückender empirischer Evidenz – die liberalen Ideen von marktwirtschaftlicher Ordnung und offener Gesellschaft sind keine Selbstläufer. Das war zu Hayeks Lebzeiten nicht anders als heute. Was könnte das klarer zum Ausdruck bringen als seine frühe Warnung vor dem Weg zur Knechtschaft (Hayek 1944) und die Tatsache, dass er 44 Jahre später in derselben Sache erneut zur Feder greifen musste (Hayek 1988)? Es genügt eben nicht, das Richtige einmal gesagt zu haben und dann zur Tagesordnung überzugehen. Es bedarf kontinuierlicher Auffrischung und Anpassung an sich wandelnde Umstände. Zumal konstruktivistische Sozialingenieure nicht untätig bleiben und immer wieder neue Eingriffe vorschlagen. Von Selbstzweifeln sind sie dabei seit jeher selten geplagt – auch heute nicht: Der Interventionismus grassiert überall. Hinzu kommen weit-verbreitete protektionistische Tendenzen. Beides ergibt die Zutaten für das, was man den modernen Neomerkantilismus nennen kann. Flankenschutz kommt von der sogenannten Modern Monetary Theory, der dem staatlichen Ausgabenwachstum durch monetäre Staatsfinanzierung das Wort redet. Das ergibt das perfekte Rezept für verheerende kollektivistische Großexperimente, wobei antikapitalistische Ressentiments auch in den christlichen Kirchen an Einfluss gewinnen (Rhonheimer 2020, Schäffler und Schneider 2020). Viel zu tun also für liberale Aufklärer.

 

Die Corona-Krise verschärft all das noch. Wie üblich kehrt in der Wirtschafts- und Finanzpolitik auch diesmal ein bekanntes Muster wieder: Vieles von dem, was in normalen Zeiten politisch nicht durchsetzbar ist, kommt nun mit dem Anti-Krisen-Etikett auf Wiedervorlage und durch die Parlamente. Selbst den Befürwortern ist klar, dass vieles davon ordnungspolitisch heikel ist. Angeblich müssten aber solche Bedenken in der Krise zurückstehen. Was für ein Missverständnis! Ordnungspolitische Grundsätze, die in Krisenzeiten außer Kraft gesetzt werden, sind keine. Zumal hohe Staatsverschuldung, monetäre Staatsfinanzierung und Zentralisierungstendenzen in der EU und speziell im Euroraum schon vorher ein Problem waren. Auch hierzulande ist man seit langem in vielen Belangen meilenweit von liberalen Grundsätzen entfernt. Nicht nur in der Wirtschaftspolitik. So verdrängt in der Gesellschaftspolitik das kollektivistische Ziel der Gleichstellung mehr und mehr das liberale Ideal der Gleichberechtigung. Der Einzelne sinkt so zu einem bloßen Bündel von Gruppenmerkmalen herab, die individuelle Persönlichkeit zählt immer weniger. Damit verkümmert zugleich das Verantwortungsgefühl – Fehler sind dann immer die Fehler des Systems, nie die eignen. Damit wachsen die Ansprüche umgekehrt proportional zur Leistungsbereitschaft. Auch können die Geltung und der Umfang unserer Menschen- und Bürgerrechte in Zeiten der Krise nicht zu einer wenig konturenscharfen Manövriermasse der exekutiven Beliebigkeit reduziert werden. Die Frage nach der Standfestigkeit eines Regenschirmes muss inmitten eines Hagelsturmes beantwortet werden und kann nicht auf den nächsten Sommersonnentag verschoben werden.
Selbst die politische Instrumentalisierung der Sprache ist längst kein Tabu mehr. Dass Sprache als evolutionäre Institution das Ergebnis sozialer Suchprozesse ist, das sich nicht am Reißbrett vorwegnehmen lässt, ist das eine. Konstruktivisten wird dies kaum beeindrucken – wer sich die kleinteilige Steuerung des hochkomplexen Wirtschaftsgeschehens zutraut, wird auch vor künstlich entworfener Sprache nicht zurückschrecken. Hier geht es aber nicht nur um eine Machbarkeitskontroverse oder Geschmacksfragen. Es geht um nichts Geringeres als das Fundament für den freien Diskurs, ohne den eine offene Gesellschaft keinen Bestand haben kann. Wird die Sprache so kodiert, dass in jedem Satz immer auch eine Gesinnung mitschwingen muss, beginnt die gesellschaftliche Ausgrenzung und mit ihr die intellektuelle Verarmung. Mehr noch: Es züchtet Konformismus und erhöht die individuellen Kosten des Widerspruchs für alle, die als „Abweichler“ sofort erkennbar werden. Politische Freiheit lebt von der Meinungsvielfalt. Konsense (Mainstream-Ansichten) müssen das Ergebnis kontroverser Diskurse und gelebter Werte sein, die sich aus der Breite der Bevölkerung heraus bilden, nicht als Vorgabe einer wie auch immer bestimmten Elite.

 

Liberale kann all das kaum kalt lassen. Es gilt, sich zu Wort zu melden. Form und Stil sind dabei nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern Ausdruck unseres Selbstverständnisses und damit auch Ausdruck unserer liberalen Sozialphilosophie. Souveränität und Bescheidenheit gepaart mit Neugier und Offenheit können dabei Hand in Hand gehen. Souveränität verleiht das feste Fundament. Mit dem methodologischen Individualismus nehmen Liberale die Menschen so, wie sie sind. Menschen müssen ihr Wesen nicht ändern, damit sie in ein liberales Weltbild passen. Das macht die liberale Weltanschauung so robust. Sie lebt davon, dass sie sich die Welt anschaut. Illiberale Regime müssen ihren Untertanen genau das verwehren – nicht aus böser Absicht, sondern aus Zwangsläufigkeit. Bescheidenheit, Neu-gier und Offenheit zeichnen liberales Denken deshalb aus, weil die Vorläufigkeit allen Wissens dazu gehört. Deshalb sind ambitionierte Liberale zugleich ihre schärfsten Kritiker – und laden andere ein, sie zu kritisieren, weil sie davon nur profitieren können. Gerade deshalb steht die liberale Sozialphilosophie auf einem so festen Grund. Sie lebt von Kritik, während bornierte Ideologien alles dafür tun, sie zu unterdrücken. Die Vertreter des Liberalismus sollten sich daher niemals von einer polarisierten Debatte anstecken lassen und sich ihrerseits radikalisieren. Das wäre maximal unklug. Wer glaubt, einem stärkeren Interventionismus beikommen zu können, indem er – gewissenmaßen als Gegenkraft – umso kompromissloser für radikal-libertäre Positionen eintritt, macht sich in seinem Denken unfrei und verspielt gesellschaftlichen Einfluss. Die Antwort auf staatlichen Dirigismus ist deshalb nicht der Ruf nach privater Polizei. Klassisch-liberale Positionen ändern sich nicht, nur weil der politische Mainstream falsch abbiegt. Für das Schärfen des klassisch-liberalen Profils sind auch anarchokapitalistische Gegenargumente nützlich, um die Grenzziehung zwischen staatlicher und privater Sphäre immer wieder neu zu präzisieren. Das setzt die Notwendigkeit einer staatlichen Sphäre voraus, die für Hayek außer Frage stand (Plickert 2020), wie überhaupt der klassische Liberalismus mit Staatsfeindlichkeit nichts zu tun hat.#

 

Gerade weil der Mainstream im öffentlichen Diskurs viele liberale Ideen verkennt, gelten sie meist an sich schon als anstößig. Das ist keineswegs ein Nachteil, sondern eine Steilvorlage, die man aber erst noch verwandeln muss. Verwandeln heißt, daraus Denkanstöße zu machen. Man kann eine Steilvorlage aber auch vor dem leeren Tor noch verstolpern, indem man anderen im Duktus der Provokation vor den Kopf stößt. Hayek war nie eine Galionsfigur des Mainstreams. Sonst würde er uns wohl heute auch nicht mehr inspirieren können. Viele seiner Gedanken waren unbequem und sind es noch heute. Vor allem passen sie in kein Links-rechts-Schema (Abbildung 1). Das garantiert Widerspruch von beiden Seiten. Und das zu Recht, denn die beiden Enden dieses Spektrums sind sich in ihrem Kollektivismus einig (nur nicht über die Kollektive, nach denen sie die Menschen zu stratifizieren trachten). Eine Hayek-Gesellschaft muss daher allen verdächtig vorkommen, denen individuelle Freiheit bei ihren Gesellschaftsvorstellungen in die Quere kommt.

 

Liberale verbindet der Glaube an die Kraft der Ideen. Diese Gewissheit haben die großen liberalen Sozialphilosophen in Zeiten aufrechterhalten, als ganz andere Bedrohungen zu bewältigen waren. Dabei gilt: Auch längst bekannte Einsichten erhalten sich nicht von selbst. Sie müssen im Kontext der Um-stände immer und immer wieder geduldig erklärt werden. Ideen brauchen Zeit, um zu einem Massenphänomen zu werden. Wer an die Kraft der Ideen glaubt, braucht deshalb Geduld. Ungeduld ist ein schlechter Ratgeber. Schnelle Lösungen, die von heute auf morgen alles verbessern, haben Liberale nicht zu bieten – im Gegenteil: Piecemeal Social Engineering (Popper 1945) ist Teil ihres Markenkerns. Aber sie können Wege aufzeigen, wie eine Kurskorrektur zum besseren aussehen kann – und sollten es auch tun, wenn sie ernst genommen werden wollen. Je mehr sie dabei die Anreizsysteme der politischen Akteure mitdenken, desto besser. Primitive Politikerschelte ist ebenso billig wie oberflächlich. Es ist keine Schwäche, sondern eine Stärke eines liberal verfassten Rechtsstaates, dass einzelne politische Akteure nicht einfach einen Hebel umlegen können, um grundstürzende Veränderungen herbei-zuführen. Der Ruf nach autoritären Führungsfiguren zeugt nur von konstruktivistischer Naivität. Kritik am Liberalismus, die ihn in den Dunstkreis autoritär orientierter Gesellschaftsentwürfe rücken will, offenbart ein Missverständnis, das krasser nicht sein könnte. Liberale sind die letzten, die auf einen starken Mann an der Spitze warten. Ebenso wenig wie auf eine starke Frau. Weil beide nicht liefern können, was sie versprechen. Wenn es eine anti-autoritäre politische Agenda gibt, dann ist es die des Liberalismus (Hartjen 2020 und die dort zitierte Literatur).

 

Um der Kraft liberaler Ideen den Weg zu bahnen, muss man sich Gehör verschaffen. Das hat mit Lautstärke nichts, aber mit überzeugend formulierten Gedanken sehr viel zu tun. Krawall bringt Applaus – leider von der falschen Seite und noch dazu sehr flüchtig. Gehör finden setzt voraus, dass andere zu-hören. Dazu muss man die Integrität der Motive anderer ernst nehmen und das Gegenüber als vernunftbegabte Wesen begreifen (Kooths 2018). Nur so lohnt sich der Diskurs – und zwar für alle Beteiligten. Beides fällt Hayekianern nicht schwer, gerade weil ihnen die Besonderheit des Wissensproblems für das soziale Gefüge so bewusst ist: Wissen ist beliebig teilbar und wird dadurch mehr statt weniger. Nur wenn man es aggregiert, schrumpft es.
Liberale Ideen sind nicht zu komplex, um sie in weiten Teilen der Bevölkerung zu verbreiten. So macht die liberale Sozialphilosophie einen klaren Unterschied zwischen dem sozialen Kitt, der Kleingruppen wie Familien und Freundeskreise zusammenhält, und dem, was in anonymen Großgesellschaften gilt. Der methodologische Individualismus spielt hier seine Stärken auch in der Kommunikation aus: Liberale propagieren keine Utopie – sie nehmen den Menschen so, wie er ist mit all seinen Stärken und Schwächen. Das schafft Verständnis, weil es der Lebenserfahrung vieler Menschen entspricht. Dieselben Menschen, die einem Bettler helfen, legen gegenüber dem Finanzamt oder ihrer Versicherung als Vertreter von Großkollektiven, denen sie selbst angehören, meist weniger Mildtätigkeit an den Tag. Es ist daher nicht schwer zu verstehen, dass man ein ganzes Land nicht wie eine Kleinfamilie führen kann, sondern dass es dafür anderer Koordinationsmechanismen bedarf, die der Komplexität der Großgesellschaft gewachsen sind. Mitunter ist der breite öffentliche Diskurs sogar weniger mühsam als die Auseinandersetzung mit interventionistischen Extremisten. Jedenfalls muss man Arbeitnehmern nicht lange erklären, wie wichtig die Existenz ihres Unternehmens für ihr Einkommen ist – und dass sie von lauter Staatsbetrieben insgesamt weniger Wohlstand zu erwarten hätten. Das keynesianische Free Lunch-Denken fasziniert viele Intellektuelle gerade auch deshalb, weil es dem „gesunden“ Menschen-verstand widerspricht. Viele Menschen sehen die einschlägigen Wundermittel aber instinktiv skeptisch und sie sind dankbar, wenn aus einem diffusen Verdacht ein solides Verständnis der Widersprüche wird. Kurzum: Die Tore für liberale Ideen stehen weit offen. Man muss nur hindurchgehen.

 

Staatsgläubigkeit ist vor allem im Abstrakten verbreitet und weniger, wenn es konkret wird. Die Menschen verschließen keineswegs die Augen vor staatlichen Fehlleistungen. Mehr noch: Es gibt durchaus ein Gespür dafür, dass der interventionistische Staat von Partikularinteressen ausgebeutet zu werden droht. Diese Gefahr können Liberale besonders überzeugend artikulieren. Das Eintreten gegen eine Mentalität der Selbstbedienung aus öffentlichen Kassen und das Schleifen von leistungsfreien Privilegien sind urliberale und zugleich populäre Anliegen. Wobei es Liberalen über die offensichtliche Unfairness hinaus auch um die Folgen für die politische und ökonomische Ordnung geht (Abbildung 2): Je interventionistischer sich der Staat aufstellt, desto mehr Angriffsfläche bietet er für den Missbrauch durch Partikularinteressen, die mittels Lobbyismus und Korruption die staatlichen Eingriffe zu ihren Gunsten beeinflussen. Im Ergebnis kommen staatliche Zwangsmittel in Reichweite privater Akteure. Die „Interdependenz der Ordnungen“ (Eucken) zum Schutz individueller Freiheitsräume degeneriert dann zu einer „Interdependenz der Unordnungen“, die den demokratischen Entscheidungsprozess wie auch den ökonomischen Leistungswettbewerb mehr und mehr zurückdrängt.

 

Der Glaube an die Kraft der Ideen bedeutet zugleich eine Absage an jede Form von Fatalismus. Menschen handeln. Sie bestimmen damit ihre Zukunft mit. Wenn sie heute anders handeln, ändert sich auch die Zukunft. Nichts schadet dem Verständnis der liberalen Sozialphilosophie mehr als schrille Untergangsprognosen. Fehlentwicklungen müssen klar benannt werden. Aber dazu gehört die Therapie, wie es besser ginge. Andernfalls beinhaltet die Prognose bereits das Eingeständnis der eigenen Irrelevanz. Die Therapie mag unpopulär sein und daher als schwer durchsetzbar erscheinen, aber das begründet keine Zwangsläufigkeit. Warum hätten liberale Ideen in der Vergangenheit sonst je zu Einfluss gelangen können? „Die Politiker unfähig, die Bürger zu blöd, die Katastrophe sowieso nicht mehr auf-zuhalten“ – eine solche Parole verdreht alles, wofür der Liberalismus steht, nämlich für Aufklärung und die Kraft der Vernunft. Sie ist nicht nur dezidiert unhayekianisch, sondern auch sonst nichts, wofür sich Menschen begeistern könnten.

 

Der Liberalismus hat in der kurzen und mittleren Frist immer ein strukturelles Problem: Seine Vertreter treten nur selten den Marsch durch die staatlichen Institutionen an. Allein schon deshalb, weil sie so ungern marschieren. Schon gar nicht im Gleichschritt. Die staatlichen Institutionen sind daher voll von Etatisten. Das verschafft ihnen Einfluss, der allerdings flüchtig, wenn nicht gar frustrierend ist. Denn in den Institutionen des Interventionsstaates gebieten sie über Instrumente, die auf Dauer nicht funktionieren. Sie laufen daher immer wieder vor dieselben Wände, und ihre guten Absichten werden ein ums andere Mal enttäuscht. Nicht Häme, sondern Mitleid ist hier am Platze. Die ökonomischen Fundamentalgesetze sind hingegen auf der Seite der Liberalen. Deren Ratschläge mag man zeitweilig ausblenden, umso sichtbarer sind dann die Folgen. Derzeit grassiert im linken politischen Lager die Neigung, die Welt als Verkörperung des Neoliberalismus darzustellen. Weder eine Staatsquote nahe an 50 Prozent noch eine ständig wachsende Regulierung ficht sie dabei an. Schon deshalb nicht, weil sich so alles Ungemach dieser Welt der freien Marktwirtschaft anlasten lässt. Das ist ebenso töricht wie durchschaubar (Kooths 2020a, Kooths 2020b1). Ursache und Wirkung klar herauszuarbeiten, ist daher die vornehmste Aufgabe, der sich Liberale widmen können. Vornehm meint hier auch: nicht einfach, aber machbar.

 

Der Interventionismus schöpft seine Motivation gerade in jüngerer Zeit auch aus Phänomen wie der Erderwärmung oder – ganz aktuell – der Corona-Pandemie. Die Welt retten – edler könnten die Motive kaum sein. Das erklärt die hohe Emotionalität in den Debatten, die sich regelmäßig dadurch polarisieren, dass Mittel und Motive miteinander vermischt werden. Kritiker der Mittel geraten so in den Verdacht übler Absichten. Kein Wunder, dass Liberale dabei besonders schnell ins Visier geraten, wenn sie vor unsachgemäßen Eingriffen warnen wollen. Nicht angenehm, aber wohl kaum zu vermeiden. Keine Lösung ist jedenfalls das, was man die Anmaßung des Nichtwissens nennen könnte. Das meint folgendes: Gäbe es all diese Phänomene nicht, entfiele der Interventionsgrund. Taktische Über-die-Bande-Spieler könnten auf die Idee kommen, nur deshalb mit Blick auf die für falsch gehaltenen politischen Reaktionen im naturwissenschaftlichen Diskurs mit den Skeptikern zu sympathisieren. Kein Phänomen, keine Eingriffe – so die schlichte Logik. Derartiges zweckbezogenes Wissenschaftsdenken könnte unhayekianischer nicht sein. Man mag so viel Mises, Hayek und Popper lesen, wie man will – ein besserer Klimaforscher oder Epidemiologe wird man dadurch nicht. Gleichwohl können Liberale gerade zu diesen existenziellen Themen viel beitragen – sehr viel sogar. Sie können – um nicht zu sagen: sie müssen – vehement dafür eintreten, dass der wissenschaftliche Diskurs ergebnisoffen geführt werden kann. Und sie können – für den jeweiligen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis – aufzeigen, welche sozio-ökonomischen Koordinationssysteme die beste Antwort auf die als erstrebenswert erkannten politischen Ziele bieten. Für beides haben Liberale eine einzigartige Kompetenz, die tief in ihrer Sozialphilosophie gründet. Insbesondere machen liberale Konzepte die Konsequenzen von Ein-griffen deutlich und lassen sie nicht in einem Meer von guten Absichten untergehen mit der naiven Illusion, die Kosten immer auf andere abwälzen zu können. Der Liberalismus ist nicht dafür da, Menschen zu sagen, was sie zu wollen und wie sie zu leben haben. Eine liberale Grundordnung hilft viel-mehr, dass jeder Einzelne die Entscheidung darüber verantwortungsvoller treffen kann, indem die Konsequenzen des Handelns klarer hervortreten. Das meint insbesondere auch die Konsequenzen demokratisch gefällter Entscheidungen. Liberale trauen dem Menschen zu, auch dann noch das Richtige zu tun, und erweisen sich so als tiefenüberzeugte Demokraten. Einen größeren Dienst kann man der Gesellschaft kaum erweisen.

 

Die Hayek-Gesellschaft ist der Ort, wo sich Liberale über Fragen wie die hier angerissenen austauschen, wo sie Inspiration finden und von wo aus sie neue Einsichten in die Welt tragen. Als wissenschaftliche Gesellschaft wird sie immer auch ein Raum des kultivierten Streits sein müssen, anders ist intellektueller Fortschritt nicht zu haben. Wissenschaftlicher Streit dient nicht dazu, Recht zu behalten, sondern neues Wissen zu entdecken. Anders als vor Gericht gehen alle Beteiligte als Sieger daraus hervor. Für politische Kampagnen sind andere zuständig. Auch für Parteipolitik gibt es geeignetere Plattformen, nämlich die Parteien. Außenstehende missverstehen den Sinn der Hayek-Gesellschaft, wenn sie sie im Parteienspektrum positionieren oder uns gar auffordern, es selbst zu tun. Nur wenn Überparteilichkeit gewahrt ist, kann die Hayek-Gesellschaft das tun, wozu sie da ist. Hayek hätte wohl nichts dagegen, an dieser Stelle seinem Mentor den Vortritt für ein Fazit zu lassen (Mises 1927, S. 168):

Der Liberalismus hat keine Parteiblume und keine Parteifarbe, kein Parteilied und keine Parteigötzen, keine Symbole und keine Schlagworte; er hat die Sache und die Argumente. Die müssen ihn zum Siege führen.

 

Quellen

Hartjen, F. A. (2020): Weniger Lamenta, mehr Lametta. Blog-Beitrag, Prometheus-Institut, Berlin. https://prometheusinstitut.de/weniger-lamenta-mehr-lametta/.

Hayek, F. A. v. (1945): The Use of Knowledge in Society. American Economic Review, Vol. 35, S. 519-530.

Hayek, F. A. v. (1937): Economics and Knowledge. Economica, Vol. 4, S. 33-54.

Hayek, F. A. v. (1944): The Road to Serfdom. University of Chicago Press, Chicago.

Hayek, F. A. v. (1988): The Fatal Conceit. University of Chicago Press, Chicago.

Kooths, S. (2018): Maximale Toleranz für Andersdenkende. Wirtschaftswoche, Nr. 52, S. 42-43, Zweit-veröffentlichung als: Verteiltes Wissen und Meinungsfreiheit. Kiel Focus, 12/2018, Institut für Weltwirtschaft, https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kiel-focus/2018/verteiltes-wissen-und-meinungsfreiheit-11898/.

Kooths, S. (2020a): Zerrbilder des Neoliberalismus. Wirtschaftswoche, Nr. 34, S. 40-41. Zweitveröf-fentlichung als: Markt statt Missionare. Kiel Focus, 08/2020, Institut für Weltwirtschaft, https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kiel-focus/2020/markt-statt-missionare-0/.

Kooths, S. (2020b): Konfusion statt Diskurs – Wie ein Märchenbuch die Kontroverse um „Markt vs. Staat“ zersetzt. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. September 2020. https://zei-tung.faz.net/faz/wirtschaft/2020-09-11/2f8fcc856bd85d38c4c7ed6e934505ae/.

Mises, Ludwig v. (1920): Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen. Archiv für Sozial-wissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 47, S. 86-121.

Mises, Ludwig v. (1927): Liberalismus. Jena.

Plickert, P. (2020): Auch Hayek mag den Staat – Warum der große Liberale Friedrich August von Hayek so oft missverstanden wird. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18. Oktober 2020.

Popper, K. (1945): The Open Society and Its Enemies. Vol. I, University of London, London.

Rhonheimer, M. (2020): Hayeks Kritik der „sozialen Gerechtigkeit“. Eine Bestätigung und Relativie-rung aus moralphilosophischer Sicht, Austrian Institute, Paper Nr. 32/2020. https://austrian-in-stitute.org/wp-content/uploads/2020/07/Rhonheimer-Hayeks-Kritik-der-sozialen-Gerechtigkeit-Ai-Paper-32-2020.pdf.

Schäffler, F., und C. Schneider (2020): Der Markt ist der beste Verbündete des Papstes – Katholiken sollten Verständnis haben für Weltanschauungen, die missbraucht werden. Frankfurter Allge-meine Zeitung, 15. Oktober 2020, https://zeitung.faz.net/faz/wirtschaft/2020-10-15/b64b4baadccca2c3b96f85dc6588bf69/.

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