von Hans-Olaf Henkel, Bernd Kölmel, Joachim Starbatty und Ulrike Trebesius
Das von der Europäischen Kommission gegen die Bundesregierung eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren richtet sich in Wirklichkeit gegen das Bundesverfassungsgericht und besonders gegen sein Urteil vom 5. Mai 2020 zum Anleihekaufprogramm öffentlicher Anleihen (PSPP), das aus Sicht der Kommission fundamentale Prinzipien des EU-Rechts verletzt habe. Doch die Bundesregierung hat sich dabei keiner Vertragsverletzung schuldig gemacht. Als Abgeordnete im Europäischen Parlament und als Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht sowie dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) haben wir vielmehr den Eindruck gewonnen, dass die Bundesregierung sowohl vor dem Bundesverfassungsgericht als auch vor dem EuGH immer auf der Seite der Europäischen Zentralbank stand. Hat die Bundesregierung EU-Recht verletzt, weil sie dem Bundesverfassungsgericht nicht in den Arm gefallen ist?
Noch ist Deutschland ein Rechtsstaat, und das Bundesverfassungsgericht ist unabhängig. Die Bundesregierung hätte sich einer Vertragsverletzung entsprechend dem auch in der EU geltenden Rechtsstaatsprinzip schuldig gemacht, wenn sie das Bundesverfassungsgericht auf eine politisch genehme Spur gedrängt hätte. Es geht der Kommission bei dem Vertragsverletzungsverfahren letztlich darum zu verhindern, dass das Bundesverfassungsgericht auch in Zukunft für Brüssel anstößige Urteile fällt.
Um den Hintergrund zu verstehen, muss man auf den Politikwechsel der EZB schauen. Im Frühjahr des Jahres 2012 stand die Eurozone vor einem Auseinanderbrechen, weil die Zinsen für Staatsanleihen für Deutschland einerseits und für Italien oder Spanien und andere Mitgliedstaaten andererseits sich gegenläufig entwickelten. Die entsprechend wachsende Zinslast hätten einige Mitgliedstaaten nicht länger tragen können und aus der Eurozone ausscheiden müssen. Nach vorangegangenen intensiven politischen Konsultationen kam am 26. Juli 2012 auf einer Investorenkonferenz in London der Befreiungsschlag: Der frühere EZB-Präsident Mario Draghi verkündete, dass die EZB in jedem Falle den Euro retten werde – whatever it takes. Seit diesem Tag ist die Politik der EZB überdeterminiert: Verantwortung für Preisstabilität und Verbot monetärer Staatsfinanzierung einerseits und Zusammenhalten der Eurozone andererseits.
Die EZB ist für die Politik in die Bresche gesprungen, weil diese nicht imstande war, über finanzpolitische Disziplin und verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik die Eurozone zu stabilisieren. Das ist der eigentliche Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Kommission: Entspricht die Politik der EZB den Europäischen Verträgen, oder ordnet sie sich politischen Vorgaben unter? Für die Kommission und den Europäischen Gerichtshof lautet die Frage nicht, welche vertraglichen Vorschriften sind einzuhalten, sondern: Was müssen wir tun, um die Eurozone zusammenzuhalten? Die Kommission erwartet von der Bundesregierung offensichtlich, dass sie das Bundesverfassungsgericht auf diese opportunistische Linie festlegt. Das entspräche aber nicht den Prinzipien eines Rechtsstaates. Letztlich ist das Vertragsverletzungsverfahren der Kommission ein Beleg dafür, dass die hinkende Konstruktion der Europäischen Währungsunion – Schaffung gemeinsamen Geldes ohne entsprechendes politisches Fundament – immer zu Konflikten zwischen rechtsstaatlicher und opportunistischer Politik führen muss.
Ursprünglich erschienen als Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), 19. Juni 2021, S. 22
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