Ein Beitrag von Prof. Dr. Erich Weede:
Vor 50 Jahren, im Herbst 1974, hatte Friedrich August von Hayek den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. Mindestens seit 80 Jahren, seit der ersten Veröffentlichung seines »Wegs zur Knechtschaft«, ist sein wichtigstes Anliegen, den Menschen den Wert der Freiheit klar zu machen. Als Ökonom beschäftigt er sich vor allem mit der wirtschaftlichen Freiheit. Der Titel eines seiner Werkes »die Verfassung der Freiheit« benennt, was er in den westlichen Gesellschaften verankert sehen möchte.
Einen gleichzeitig schnellen und gründlichen Zugang zu Hayeks Denken erlaubt der berühmte Aufsatz, den er kurz vor dem Ende des zweiten Weltkrieges im American Economic Review veröffentlicht hatte. Zwar hatte Ludwig von Mises schon kurz nach Lenins Machtergreifung und der Gründung der Sowjet-Union erkannt, dass Planwirtschaften mangels flexibler Knappheitspreise, die den Privatbesitz an Produktionskapital voraussetzen, zu einer rationalen Ressourcenallokation unfähig seien, aber erst Friedrich August von Hayek hat 1945 das Argument hinzugefügt, das man als Ergänzung oder auch als Vertiefung ansehen kann: Weil Wissen nicht immer explizit oder gar akademisch ist oder Allgemeingültigkeit an allen Orten und zu allen Zeiten beanspruchen kann, ist es weder in einem Kopf, noch in einer Bibliothek und schon gar nicht in einer die Wirtschaft planenden Behörde zentralisierbar.
Beispiele für lokales Wissen sind die Kenntnisse des vielleicht noch nicht mal schreibkundigen Bauern in einem Entwicklungsland, was auf welchem seiner Äcker gut wächst, oder eines Unternehmers, welcher seiner Lieferanten zuverlässig, termingerecht und qualitativ befriedigende Vorprodukte bereit stellt. Beispiel für implizites Wissen ist das Können von Handwerkern, das nicht über Bücher oder Vorträge, sondern bei praktischer Tätigkeit in der Lehre vermittelt wird. Wenn das in Millionen Köpfen verstreute und recht verschiedenartige Wissen zur Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen genutzt werden soll, dann müssen die Regierungen den Menschen die Freiheit lassen, möglichst viel selbst zu entscheiden, dann dürfen die Regierungen die Menschen nicht endlos bevormunden wollen, dann müssen Regierungen die Menschen auch die Folgen ihres Handelns tragen lassen. Das gilt gleichermaßen für positive wie negative Handlungskonsequenzen. Positive Erträge, wie Löhne oder Gewinne, dürfen nicht so stark mit Steuern und Abgaben belastet werden, dass der Anreiz sie zu erwirtschaften erlahmt. Wirtschaftlicher Misserfolg darf nicht soweit durch Sozialleistungen ausgeglichen werden, dass der Anreiz erlahmt, Misserfolg zu vermeiden. Freiheit muss deshalb durch Verantwortung ergänzt werden, also das Verantwortlich-gemacht-werden.
Hayek hat nicht nur die Produktivität der Freiheit erkannt, sondern auch, dass wir nicht nur von der eigenen Freiheit, unsere Fähigkeiten produktiv einzusetzen, sondern auch von der Freiheit unserer Mitmenschen das zu tun profitieren, was sie wollen und können. Nicht jeder weiß, was er kann. Aber viele von uns wissen es zumindest ungefähr. Die Obrigkeit, weiß bestimmt nicht von uns allen, wer was kann und außerdem wer was tun will, was bekanntlich Einfluss auf Arbeitsfreude und Sorgfalt hat. Man kann eine freiheitliche Gesellschaft deshalb als öffentliches Gut auffassen, von dessen Bereitstellung alle Mitglieder der Gesellschaft etwas haben.
Nur die Machthaber in der Gesellschaft – unabhängig davon, ob sie gewählt sind, ihre Position als Monarchen oder Aristokraten ererbt haben, sich als Obristen an die Macht geputscht haben oder verdiente Kader einer kommunistischen Partei sind – können das öffentliche Gut der freiheitlichen Gesellschaft als Übel empfinden, weil die Freiheit aller offensichtlich enge Schranken für die Reglementierung und Zwangsausübung durch Machthaber impliziert.
Überall hängt der materielle Lebensstandard der Menschen auch von ihren Fertigkeiten bzw. von ihrem Humankapital ab. Aber noch wichtiger als die eigene Humankapitalausstattung ist die der anderen Angehörigen derselben Volkswirtschaft. Ist deren Humankapitalausstattung gut und die Gesellschaft deshalb wohlhabend, dann kann man selbst sogar noch von Sozialleistungen erträglich leben oder als Putzkraft sich noch einen Gebrauchtwagen leisten. Ist die Humankapitalausstattung der Anderen aber bescheiden, das eigene Land deshalb arm, dann können die materiellen Lebensbedingungen selbst eines Arztes oder halbwegs erfolgreichen Kaufmanns sehr bescheiden sein. Daraus folgt, dass es im materiellen Interesse der glücklichen Bewohner eines reichen Landes sein muss, sich vor illegaler Zuwanderung von hilfsbedürftigen, armen und in der Regel schlecht ausgebildeten Menschen aus unterentwickelten Ländern zu schützen. Wer vorher schon im Lande lebt, leidet unter unqualifizierter Zuwanderung und profitiert von der Zuwanderung Hochqualifizierter, zumindest solange die fast überall im demokratischen Westen geltende progressive Besteuerung erhalten bleibt, die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit.
Das entscheidende Merkmal einer freiheitlichen Gesellschaft ist nicht die demokratische Mitbestimmung. Die ist auch wünschenswert, weil sie die friedliche Abwahl ungeeigneter oder überforderter Regierungen und den unblutigen Machtwechsel erlaubt. Noch wichtiger aber ist die Selbstbestimmung, die jedem erlaubt, seine Fähigkeiten im eigenen Interesse und in dem seiner freiwilligen Tausch- und Vertragspartner einzusetzen. Dabei sind die Freiheit und die Qualifikation der Anderen unter dem Aspekt des Wohlstands sogar noch wichtiger als die eigene Freiheit und Qualifikation. Obwohl Hayek kein grundsätzlicher Gegner staatlicher Unterstützung für Bedürftige ist, weshalb ihm radikal Libertäre sozialdemokratische Neigungen vorwerfen, fürchtet er den Missbrauch des Gedankens der sozialen Gerechtigkeit. Der kann ein Vorwand für die stetige Ausweitung der Staatsmacht und eine Bedrohung der Freiheit der Menschen werden.