Literatur von Welt 80 Jahre "Der Weg zur Knechtschaft"
Fortlaufende Reihe in 15 Kapiteln

80 Jahre nach »The Road to Serfdom«

Friedrich August von Hayek veröffentlichte im März 1944 sein legendäres Buch „The Road to Serfdom“. Ein Jahr später erschien das Buch in deutscher Sprache. Dort wird der Titel mit „Der Weg zur Knecht­schaft“ übersetzt. Sprachlich ergibt sich hierdurch eine gewisse Ent­schär­fung. Denn das englische „serfdom“ bezeichnet eher die volle Leib­eigen­schaft, die dem Betroffenen noch weniger Hand­lungs­mög­lich­keiten belässt, als es eine Knecht­schaft ohnehin schon tut. Das Sujet des Werkes ist heute so aktuell wie seinerzeit: Staatliche Zwangs­­ver­­wal­tungs­­wirt­­schaft einerseits und individuelle Men­schen­würde andererseits schließen einander aus. Ein Mensch kann nur entweder frei und persönlich handelndes Subjekt sein oder fremd­bestimm­tes, behandeltes Objekt in einem aus anderen Mächten konstruierten Ganzen. Die Konse­quenzen des indi­vi­duellen Autonomieverlustes in einem insgesamt geplanten und rücksichtslos voll­zo­genen Kollektiv werden von Hayek minutiös in Ursache und Wirkung beschrieben.

In einer fortlaufenden Reihe von 15 Kapiteln geht Carlos A. Gebauer auf Hayeks Wege zur Knechtschaft ein.

Carlos A. Gebauer ist Fach­anwalt für Me­di­zin­recht, Publizist und Moderator. Er ist stell­ver­treten­der Vor­sit­zender im Zweiten Senat des Anwalts­gerichts­hofes NRW, Dozent an der Liechten­stein Academy und stell­vertre­tender Vor­sitzender und Justiziar der Hayek-Gesell­schaft.
Hayeks Warnung vor der Knechtschaft | Einführung

In einem Vorwort zur Neuauflage des Werkes im Jahre 1971 hielt Hayek selbst fest: „In seiner ursprünglichen englischen Fassung ist das Buch 1944 erschienen. Es war in erster Linie an jene Kreise der sozialistischen Intelligenz Englands gerichtet, die im Natio­nal­sozialismus eine ‚kapitalistische‘ Reaktion gegen die sozialen Tendenzen der Weimarer Republik sahen, und sollte ihnen verständlich machen, dass es sich im Gegenteil um eine Fortentwicklung des Sozialismus handelte. Zu der Zeit, als ich dieses Buch schrieb, wurde die grundsätzliche Ähnlichkeit des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Kommunismus noch keines­wegs allgemein gesehen. Meine Absicht war es, zu zeigen, dass es nicht die besonderen Ziele waren, denen die verschiedenen totalitären Systeme zu dienen vorgaben, die ihre Brutalität hervorriefen, sondern dass diese eine not­wen­dige Folge jedes Versuches sein müssen, eine ganze Gesellschaft völlig den von den Herrschern bestimmten Zielen dienstbar zu machen. Inwieweit die Argumentation des Buches auch für jene neueren Formen des Sozialismus gilt, die das Ziel sozialer Gerech­tigkeit durch eine Vielzahl von Eingriffen in eine grundsätzlich zu erhaltende Markt­wirtschaft zu erreichen suchen, hängt davon ab, ob diese Versuche nicht doch, wie ich glaube, früher oder später zu einer Zentralverwaltungswirtschaft führen oder nicht. Nach einer liberalen Periode, die Deutschland einen Aufstieg seines Wohlstands ermög­licht hat, den kaum jemand vorauszusagen gewagt hätte, sind nun unter der Jugend die alten Ideen des Sozialismus wiederauferstanden. Ein Teil der Jugend glaubt wieder, der Freiheit zu dienen, indem er eine Wirtschaftsordnung befürwortet, die tatsächlich die Freiheit des Einzelnen auf das engste beschränken würde. Sie wissen nicht mehr aus eigener Erfahrung, was eine Regierungsform bedeutet, in der die Herrschenden unbe­schränkte Macht über alle Mittel ausüben.“

Die Brillanz der schnell erfolgreichen, weil vielfach rezipierten Analyse Hayeks moti­vierte in England unter anderem auch George Orwell, die verheerenden und freiheits­vernichtenden Auswirkungen wirtschaftspolitscher Totalitarismen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vier Jahre nach Hayek veröffentlichte er seinen bis heute weithin bekannten Roman „1984“. In einer Rezension des Buches „The Road to Serfdom“, die „The Observer“ am 9. April 1944 veröffentlichte, schrieb er: „Professor Hayeks These ist in aller Kürze, dass Sozialismus unvermeidlich zu Despo­tismus führt und dass die deutschen Nazis in die Lage kamen, Erfolg zu haben, weil die Sozialisten zuvor schon die meiste Arbeit für sie getan hatten, besonders die geistige Arbeit, das Verlangen nach Handlungsfreiheit zu schwächen. Indem der Sozialismus das ganze Leben unter staatliche Kontrolle bringt, überträgt er die Macht zwangsläufig auf einen kleinen Kreis von Bürokraten, die in praktisch jedem Falle Menschen sein werden, die Macht um ihrer selbst willen anstreben und alles daransetzen, sie zu erhalten. Britannien, sagt er, beschreitet nun den gleichen Weg wie Deutschland, mit linker Intelligenzia und einer ihr folgenden Tory Partei. Die einzige Rettung liege in der Rückbe­sinnung auf eine ungeplante Wirtschaft, freien Wettbewerb und eine Betonung eher von Freiheiten als von Sicherheit.“

Für eine heutige Lektüre des Buches hat man sich zu vergegenwärtigen: Das zentrale Problem der Darstellung – die Unvermeidlichkeit der zwangsweisen Unterdrückung des Einzelnen in einer als perfektionierte Gesamtmaschine verstandenen staatlichen Wirtschaft – wurde dem Ökonomen und Juristen Hayek bereits Mitte der 1930er Jahre immer deutlicher. 1937 blickte die Welt auf eine 20-jährige Empirie des sowjetischen Kommunismus seit der Oktober­revo­lution zurück. Gleichzeitig staunte die politische Weltöffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt, dass es den Nationalsozialisten in Deutschland gelungen zu sein schien, mit rücksichtsloser staatlicher Wirtschaftspolitik die fatale Massenarbeitslosigkeit aus den frühen 1930er Jahren zu überwinden. Dass dieser deutsche Scheinerfolg tatsächlich auf Marktmanipulationen und gänzlicher Verachtung privaten Eigentumes beruhte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht für jedermann offensichtlich. Dem analytischen Blick Hayeks hingegen offenbarte sich bereits die fatale Parallele zwischen der kommunistischen und der nationalsozialistischen Zentral­ver­wal­tungs­wirtschaft. Beide richteten sich gegen persönliche Freiheit und autonome ökono­mische Entscheidungen. Anders als der Sowjetkommunismus enteignete der Nationalsozia­lismus seine Bürger zwar nicht vollends von ihren Produktionsmitteln, sondern er machte ihnen lediglich strenge Vorgaben, mit welchen Einsatzmitteln nun von ihnen welche genauen Ziele zu verfolgen waren. Wer also nicht infolge „völkischer“ Motivation ohnehin von seinem Eigentum getrennt und aus dem Land gejagt wurde, der schien noch Eigentümer zu bleiben, konnte daraus aber keine Rechte oder eigene, freie Handlungs­möglichkeiten herleiten.

Zum Ende der 1930er Jahre war Hayek zunächst noch nicht abschließend klar, wie sich der öffentliche Diskurs zur deutschen Wirtschaftspolitik entwickeln würde. Nachdem sich indes hartnäckig das – teilweise bis in die Gegenwart kolportierte – allgemeine Gerücht verdich­tete, im nationalsozialistischen Deutschland herrschte ein kapita­lis­tisches Wirtschafts­system, sah Hayek die Notwendigkeit, „The Road to Serfdom“ im Detail auszuformulieren.

In der Einleitung zur Erstausgabe des Jahres 1944 stellte Hayek daher fest: „Nur wenige wollen zugeben, dass der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus nicht als Reaktion gegen die sozialistischen Tendenzen der voraufgegangenen Periode, sondern als die zwangsläufige Folge jener Bestrebungen begriffen werden muss.“

Der Österreicher Hayek formulierte weiter: „Wir werden nie die richtige Einstellung zu den Deutschen gewinnen, solange wir nicht die Eigenart und die Entwicklung der Ideen begriffen haben, von denen sie jetzt beherrscht werden.“ Und er fragte: „Kann man sich eine größere Tragödie vorstellen, als die, dass wir in dem Bestreben, unsere Zukunft bewusst nach hohen Idealen zu gestalten, in Wirklichkeit und ahnungslos das genaue Gegenteil dessen erreicht haben sollten, wofür wir gekämpft haben.“

An diese Einleitung schließt sich die Darstellung des Weges zur Knechtschaft in fünfzehn Kapiteln an.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Der verlassene Weg | Kapitel 1

Hayek beginnt seine Beweisführung zur Freiheitszerstörung durch den Sozialismus im ersten Kapitel seines Buches mit einer geistes- und wirtschaftshistorischen Lage­be­ur­teilung. Er vergleicht die wirtschaftliche Situation des Arbeiters zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der eines Arbeiters 100 Jahre zuvor.

Die unbestreitbaren Wohlstandszuwächse dieses Zeitraumes in den Haushalten einfacher Arbeiter müssen eine Ursache haben. Die gelte es zu erfassen und zu umschreiben. Hayek verortet die Ursache dieses Prosperierens entscheidend in der Möglichkeit, während dieser Periode – anders als zuvor – individuell frei handeln gekonnt zu haben. „Das Wort Individu­alismus hat heute einen schlechten Klang, denn man bringt den Ausdruck in Zusammenhang mit Eigennutz und Selbstsucht. Aber Individualismus braucht damit nichts zu tun zu haben. Individualismus ist in der Hauptsache durch die Achtung vor dem Individuum als Menschen gekennzeichnet.“

Respektiert man jeden einzelnen Menschen als freies Individuum, so bleibt dies erwartungs­gemäß nicht ohne Konsequenzen für ein vormals starres, gesellschaftlich festgezurrtes System. Diese A-priori-Erwartung bildet sich in der empirisch erkenn­baren historischen Entwicklung tatsächlich ab: „Die allmähliche Umwandlung eines starr organisierten hie­rar­chi­schen Systems in ein solches, in dem die Menschen zumin­dest versuchen konnten, ihr Leben selber zu gestalten, indem sie die Gelegenheit erhiel­ten, verschiedene Lebens­formen zu erforschen und zwischen ihnen zu wählen, ist auf das Engste mit dem Aufblühen des Handels verbunden. Die Erkenntnis, dass die spon­tane und ungelenkte Betätigung von Einzelwesen ein komplexes und koordiniertes System von Wirtschaftsakten hervorzubringen vermochte, konnte sich erst einstellen, als diese Entwicklung einen gewissen Punkt erreicht hatte. Wenn man im Nachhinein daran ging, die Wirtschaftsfreiheit nun systematisch zu begründen, dann war das der freien Entfaltung des wirtschaftlichen Lebens zu verdanken. Sie war ein unbe­ab­sich­tigtes und unerwartetes Nebenprodukt der politischen Freiheit.“ Damit erweist sich Hayek als „Austrian“ im klarsten Sinne, denn er analysiert die spontane, dezentrale Ordnung der Systemschaffung als Ursache ihrer besonders gedeihlichen Funktionsfähigkeit.

Weiter formuliert er: „Das wichtigste Ergebnis, das die Entfesselung der Energien aller Indi­viduen mit sich brachte, dürfte aber wohl die wunderbare Entfaltung der Wissenschaft sein. Erst nachdem die Gewerbefreiheit der Anwendung des neu gewonnenen Wissens freie Bahn verschaffte, konnte die Wissenschaft jene riesigen Fortschritte machen, die das Bild der Welt in den letzten 150 Jahren geprägt haben. Überall, wo die Schranken für die freie Betätigung des menschlichen Genius fielen, eröffnete sich den Menschen dann auch die Möglichkeit, ihre ständig wachsenden Bedürfnisse zu befriedigen. Es steht außer Zweifel, dass diese Erfolge die kühnsten Träume übertrafen, dass der Arbeiter im Abendland zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Grad materieller Wohlfahrt, Sicherheit und persönlicher Unabhängigkeit erreicht haben würde, der ein Jahrhundert früher kaum denkbar erschienen war.“

Das in der Folge indes wesentlichste Problem für das Verständnis dieses empirischen Befundes liegt Hayek zufolge in der Bewertung des Vorganges für künftiges mensch­liches Verhalten. Denn es scheint dem Beobachter auf der Hand zu liegen, dass der Mensch zwar „Macht über das eigene Schicksal“ und Herrschaft über „die unbe­grenz­ten Möglichkeiten der Verbesserung seiner Lage“ habe. Worin genau aber die letztlich entscheidende Erfolgsursache dafür lag, war dem bloßen Auge nicht ohne Weiteres erkennbar. Im Gegenteil. Menschliche Individuen weiterhin all das tun zu lassen, was ihnen selbst als sinnvoll galt, schien plötzlich für das große Ganze nicht mehr hinreichend offenkundig zweckdienlich: „In den Prinzipien, die diesen Fortschritt in der Vergangenheit ermöglicht hatten, sah man schließlich mehr ein Hindernis für seine Beschleunigung statt einer Vorbedingung für die Erhaltung und Weiterentwicklung des bereits Errungenen.“

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass es gerade die spontane und nicht ferngesteuerte Betätigung kreativer Individuen war, die zur Lageverbesserung geführt hatte, blieb der breiten Analyse verborgen. Es erwuchs die Illusion, vergleichbare Erfolge auch künftig willentlich und nun sogar gezielt fortschreiben zu können. Es bestehe jedoch, formuliert Hayek, „ein himmelweiter Unterschied zwischen der bewussten Schaffung eines Systems und dem passiven Sichabfinden mit den nun einmal bestehenden Einrich­tungen“. Hayek bemüht in diesem Zusammenhang das Bild eines Gärtners, „der eine Pflanze pflegt und der zur Schaf­­fung der für sie günstigsten Wachstumsbedingungen möglichst viel über ihren Bau und ihre physiologischen Funktionen wissen muss“. Statt aber zunächst in Demut die Ent­stehungs­­voraussetzungen und Bestehensbedingungen für den eingetretenen Fortschritt und Wohlstand zu ermitteln und grundlegend zu verstehen, schwenkte die bedürfnisgesteigerte Gesellschaft in eine Illusion der zügigen Machbarkeiten um.

In diesem Kontext stellt Hayek jedenfalls 1944 auch klar: Von einem – in heutiger Diktion – „Anarchokapitalismus“ im Sinne eines sich selbst überlassenen, vollends unregulierten Marktgeschehens hielt er nichts. Die bis heute oft kolportierte Einord­nung des „Weges zur Knechtschaft“ als des Hoheliedes des Marktradikalismus ist daher definitiv unrichtig. Mehr noch. Hayek sagt vielmehr: „Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner Anhänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laissez-faire.“ Und damit nicht genug. Im Jahre 1944 schien es Hayek noch nicht einmal ausgeschlossen, den „Gärtnern“ der Gesellschaft auch „die Mani­pulierung des Währungssystems und die Verhütung oder Überwachung von Monopolen“ anzuvertrauen. Die seinerzeitige Vorstellung Hayeks von der Angemessenheit einer neolibe­ralen Synthese für einen „dritten Weg“ aus ordnungspolitischen Grenzziehungen und einem freien Spiel von akzeptierten Marktkräften scheint – wie marktaffinere Kritiker Hayeks später genau hier monierend angemerkt haben – in diesen Worten deutlich auf.

Zugleich aber diagnostiziert Hayek bereits für die damalige Phase das debattierte Dilemma, Freiheit als Ursache von Wohlstand gegen den Vorwurf mangelnder Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft verteidigen zu müssen: „Der Liberalismus sah sich ständig gezwungen, Vorschläge zu bekämpfen, die den Fortschritt infrage stellten. Schließlich wurde er sogar als ‚negative‘ Doktrin angesehen, da er den einzelnen Individuen wenig mehr zu bieten imstande war als einen Anteil am allgemeinen Fortschritt – einem Fortschritt, der immer mehr als selbstverständlich hingenommen wurde.“

Sein damaliger Befund zum Scheinbesitzstand („Das Erreichte wurde als ein sicherer und unverlierbarer Besitz angesehen, der ein für alle Mal erworben war“) klingt 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches beklemmend vertraut. Auch heute lebt manche Politik erkennbar in der Vorstellung, erreichte Wohlstandsniveaus nicht immer neu erobern zu müssen, sondern sie als unverlierbar voraussetzen zu können.

Im Rahmen seiner geistesgeschichtlichen Einordnung dieser Entwicklung versäumt Hayek nicht, die Mentalitätsunterschiede zwischen einerseits der britischen und ande­rer­seits insbesondere der deutschen Befindlichkeit gegeneinander abzugrenzen. Er warnt jedoch als Österreicher in England seine britischen „westlichen“ Mitbürger, das Vereinigte Königreich nicht als dauerhaft gegen Kollektivismen aus dem Osten immu­nisiert zu betrachten: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tendenzen, die in der Schaffung der totalitären Systeme gipfelten, nicht auf die Länder beschränkt waren, die ihnen erlegen sind. Nun fällt es uns gewiss schwer, Deutschland, Italien oder Russland als Ergebnisse einer geistigen Entwicklung anzusehen, die auch die unsere war. Wir meinen auch heute noch, dass wir uns bis vor ganz kurzer Zeit von Ideen leiten ließen, die man als das Laissez-faire-Prinzip bezeichnet. Schon mindestens ein Viertel­jahrhundert, bevor das Gespenst des Totalitarismus bedrohlich wurde, hatten wir uns (aber schon) mehr und mehr von den geistigen Grundlagen, auf denen die europäische Kultur errichtet ist, entfernt. Schritt für Schritt haben wir jene Freiheit der Wirtschaft aufgegeben, ohne die es persönliche und politische Freiheit in der Vergangenheit nie gegeben hat. Obwohl einige der bedeutendsten politischen Denker des 19. Jahrhunderts, wie Tocqueville und Lord Acton, warnend darauf hingewiesen hatten, dass Sozialismus Sklaverei bedeutet, haben wir uns stetig in diese Richtung bewegt.“

Die Gründe für diesen Epochenbruch sah Hayek in einer zeitgeschichtlichen Dominanz des geistigen Einflusses deutscher Denker auf das europäische Denken. Nach dem Jahre 1870 seien die vorherigen freiheitlichen Philosophien Englands in die Defensive gerückt: „England wurde zu einem geistigen Einfuhrland.“ Übersehen wurde, dass Deutschland trotz seiner großen Wohlstandssteigerungen und des außerordentlichen Rufes seiner Gelehrten weltweit bereits in den gefährlichen Griff des Sozialismus geraten war: „Die meisten neuen Ideen und besonders der Sozialismus stammten zwar nicht aus Deutschland, aber dort wurden sie vervollkommnet. Man denkt nicht mehr daran, dass Deutschland ein Menschenalter, bevor der Sozialismus bei uns zu einem ernsten Problem wurde, eine starke sozialistische Partei im Reichstag sitzen hatte.“ Viele Menschen rund um den Erdball glaubten, es könne den Deutschen gelingen, die Abläufe in ihrer Gesellschaft ebenso willentlich zu gestalten, wie sie ihre Maschinen ingenieurtechnisch perfektionierten.

Mit dieser Analyse beschließt Hayek das erste Kapitel und leitet über zur Frage nach der großen Illusion, der er als Motto den Satz Hölderlins voranstellt: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Die große Illusion | Kapitel 2

Lassen die Mitglieder einer Gesellschaft nicht zu, dass Einzelne in ihrer Mitte das tun, was sie persönlich für richtig halten, sondern erteilen sie einander Befehle zur Verhaltensregelung, dann schwindet zwangsläufig die Entscheidungsfreiheit des Individuums. Der einzelne Mensch kann in dieser gesell­schaftlichen Organisa­tions­gestalt für sich und mit den Menschen, die ihm lieb und teuer sind, nicht mehr unabhängig und selbstbestimmt handeln. Er ist auf Erlaubnisse und Genehmigungen Fremder, auf Gestattungen und Vorgaben anderer zurückgeworfen.

Will man eine Gesellschaft wie eine ingenieurtechnisch perfekte Maschine gestalten, um zentral vordefinierte Ziele zu erreichen, dann ist es unmöglich, den Teilen dieser Maschine individuelle Selbstverantwortung zu überlassen. Ein Zahnrad in einem großen Getriebe muss dann vielmehr genau die Form erhalten und behalten, die zum Betrieb der einmal konzi­pierten Gesamtheit erforderlich ist. Jedes einzelne Zahnrad muss sich darüber hinaus aber auch in der für die Gesamtmaschine erforderlichen Weise bewegen. Eine eigene Ausdehnung oder autonome Bewegungsentscheidungen sind für jedes einzelne Zahnrad ausgeschlossen.

Die von Hayek als „große Illusion“ bezeichnete Erwartung, der Kampf gegen das Ancien Régime und für die Freiheit könne in einer sozialistischen Gesellschaftsmaschine zu Ent­schei­dungs- und Handlungsfreiheiten des Individuums führen, muss also zwangs­läufig enttäuscht werden. In einem sozialistischen Gesellschaftsgetriebe hat der Einzelne (wieder wie in den alten Zeiten des Adels und der Kirchenmacht) fremd­ge­steuert zu funktionieren. Verweigert er diesen Gehorsam, hat er Konsequenzen entgegenzusehen. Hayek formuliert: „Heute erinnert man sich nur selten daran, dass der Sozialismus in seinen Anfängen unver­hüllt autoritär war. Der erste moderne Plan­wirtschaftler, [Henry de] Saint-Simon [1760–1825], sagte sogar voraus, dass man diejenigen, die seinen projektierten Plan­wirt­schafts­stellen den Gehorsam verweigerten, ‚wie Vieh behandeln‘ würde.“ In dieser Dimen­­sion wird unzweifelhaft deutlich, warum Hayek seinem zweiten Kapitel den Satz Friedrich Hölderlins vom Staat als „Hölle“ voranstellte.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brach sich bei den Frühsozialisten augen­scheinlich die Erkenntnis Bahn, dass es einen argumentativen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Gesamtplanung und individueller Freiheit gibt. Die Revolution des Jahres 1848 entwickelte daher den Gedanken, die Idee des Sozialismus mit einem leicht abweichend definierten Frei­heits­begriff zu verbinden. In diesem Zusammenhang zitiert Hayek Alexis de Tocqueville [1805–1859]: „Die Demokratie dehnt die Sphäre der indi­vi­duellen Freiheit aus, der Sozia­lismus dagegen schränkt sie ein. Die Demokratie erkennt jedem Einzelnen seinen Eigenwert zu, der Sozia­­lismus degradiert jeden Einzelnen zu einem Funktionär der Gesellschaft, zu einer bloßen Nummer. Demokratie und Sozia­lismus haben nur ein einziges Wort gemeinsam: die Gleichheit. Aber man beachte den Unterschied: Während die Demokratie die Gleichheit in der Freiheit sucht, sucht der Sozialismus sie im Zwang und in der Knechtung.“

Die begriffliche Umdeutung geschah dadurch, dass das ursprüngliche Versprechen der Freiheit von Despoten nun zur Verheißung einer Befreiung aus dem „Reich der Notwen­digkeit“ werden sollte. In heutiger Diktion sagt man wohl: Liberalismus liefere nur negative Freiheit, Sozialismus hingegen schaffe die nötigen materiellen Grundlagen für positive Freiheit. Dass diese materiellen Grundlagen aber erst von irgendjemanden geschaffen werden müssen, um dann umverteilt werden zu können, wird in dieser Weltsicht seit bald 200 Jahren vergessen. Hayek formuliert: „Wenn man also die neue Freiheit forderte, so meinte man damit nichts anderes als den alten Anspruch auf gleichmäßige Besitzverteilung. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Versprechen einer größeren Freiheit eine der wirksamsten Waffen der sozialistischen Propaganda geworden ist.“

Zum weiteren empirischen Nachweis seiner argumentativen Überlegungen zitiert Hayek den langjährigen amerikanischen Korrespondenten William H. Chamberlin [1897–1969], der im Jahre 1937 auf zwölf Jahre eigener Arbeit in Russland zurück­blickend notierte: „Es ist sicher, dass der Sozialismus sich wenigstens im Anfang als ein Weg erweist, der nicht zur Freiheit, sondern zur Diktatur und Gegendiktatur und zum erbarmungslosen Bürgerkrieg führt. Ein Sozialismus, der mit demokratischen Mitteln erkämpft und erhalten wird, scheint endgültig zu den utopischen Dingen zu gehören.“ Und der legendäre amerikanische Publizist Walter Lippmann [1889–1974] wird von Hayek mit der Erkenntnis zitiert: „In dem Maße, wie [kollektiv] organisierte Lenkung zunimmt, muss die Vielfalt der [individuellen] Ziele der Gleichförmigkeit weichen. Das ist die Nemesis der Planwirtschaft.“

Wie sehr sich die autoritären Systeme des Kommunismus, des nationalen Sozialismus und des Faschismus im stets systematisch freiheitszerstörenden Fremd­be­stim­mungs­reflex auch weltanschaulich gleichen, macht ein weiterer Blick auf die Propaganda­aktivitäten der entsprechenden Parteigänger klar: „Es war in Deutschland allgemein bekannt, dass ein junger Kommunist verhältnismäßig leicht zum Nationalsozialisten bekehrt werden konnte und umgekehrt; am besten wussten dies die Propagandaleiter der beiden Parteien. Während für die Nationalsozialisten der Kommunist, für die Kommunisten der Nationalsozialist und für beide der Sozialist als Rekrut infrage kam als ein Mann, der aus dem rechten Holz geschnitzt war, wenn er auch auf falsche Propheten gehört hatte, so wussten sie doch beide, dass es zwischen ihnen und denen, welchen es mit dem Glauben an die Freiheit wirklich ernst war, keinen Kompromiss geben konnte.“

Das planwirtschaftliche Mantra des deutschen Nationalsozialismus wurde von dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Eduard Heimann (1889–1967), der sich die Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu seiner Lebens­aufgabe gemacht hatte, in die von Hayek zitierten Worte gefasst. „Das Hitler­system geht sogar so weit, sich zum Beschützer des Christentums aufzuwerfen, und das Grauenvolle ist, das selbst diese grobe Verdrehung geeignet ist, einen gewissen Ein­druck zu machen. Aber eines ist in all diesem Meer des Irrtums sonnenklar: Hitler hat nie den Anspruch erhoben, den echten Libera­lismus zu vertreten. So genießt der Libera­lismus die Auszeichnung, die von Hitler bestgehasste Lehre zu sein.“

In seiner Analyse schließt Hayek das zweite Kapitel seiner Ausarbeitung folgerichtig mit der Erkenntnis: „Während vielen, die die Entwicklung vom Sozialismus zum Faschis­mus aus nächster Nähe beobachtet haben, der Zusammenhang zwischen beiden Systemen immer klarer geworden ist, sind in England heute noch die meisten Leute der Meinung, dass Sozia­lismus und Liberalismus miteinander vereinbar seien. Ohne Zweifel glaubt die Mehrzahl der Sozialisten bei uns noch immer fest an das liberale Freiheits­ideal und würde entsetzt sein, wenn sie zu der Überzeugung käme, dass die Verwirk­lichung ihres Programms die Vernich­tung dieser Freiheit bedeuten würde.“

Nach dieser Problemausbreitung folgt nun – im dritten Kapitel – die Betrachtung des unvermeidlichen Widerstreits zwischen einerseits individueller Freiheit und andererseits kollektiver Organisation.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Individualismus und Kollektivismus | Kapitel 3

Das dritte Kapitel seiner Wegbeschreibung in die Knechtschaft beginnt Hayek mit einer Begriffsanalyse des Sozialismus. Er stellt fest, dass schon das Wort selbst für diskursive Verwirrung sorgt. Während einerseits die Ziele des Sozialismus – das heißt seine Ideale – allgemein konsensfähige Inhalte beschreiben, enthält seine Benennung andererseits auch eine Beschreibung der Methoden zur Erreichung dieser Ziele. Wer also „Sozialismus“ sagt, der kann sich sowohl auf das „Was“ der Sache als auch auf das „Wie“ ihrer Realisierung beziehen.

Während als Ideale des Sozialismus Umstände wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Sicherheit gelten, beziehen wir uns umgekehrt bei der Beschreibung seiner Methoden auf die Abschaf­fung der Privatunternehmen und des Privateigentums an Produktionsmitteln, um an deren Stellen ein zentrales, geplantes Kommandowirtschaftssystem durch eine Behörde zu setzen.

Kritiker des Sozialismus weisen stets darauf hin, dass gerade diese Methoden zur Verwirk­lichung der Ziele fragwürdig seien. Die Verteidiger der sozialistischen Idee halten den Kriti­kern umgekehrt entgegen, dass sie die Zielvorstellungen des Sozialismus nicht gutheißen wollten. Diese Verwirrung der Debatte sorgt offenkundig bis heute für immer wieder typische Streitigkeiten unter Diskursteilnehmern.

Hayek sieht aber noch weiteres Verwirrungspotenzial. Das „Hauptinstrument der sozialis­tischen Reform“ ist eben die Methodik der Planwirtschaft. Mit einer solchen rationalen Planung hoffen Sozialisten einer missliebig unkontrollierten – und also auch mindestens in ihren Ergebnissen ungerechten – „Profitwirtschaft“ begegnen zu können. Die gleichmäßige Versorgung aller Bürger solle daher durch eine wohlorganisierte, gerechte „Bedarfs­de­ckungs­­wirtschaft“ ersetzt werden.

Im Kontext zu der Klarstellung des vorangegangenen Kapitels über die „große Illusion“, dass der Einzelne in der staatlichen Gesamtmaschine Freiheit finden könnte, stellt Hayek hier historisch-empirisch nüchtern fest: „Man muss ferner beachten, dass gerade der Sozialismus die liberal Gesinnten dazu gebracht hat, sich aufs Neue genau jener Reglementierung ihres Wirtschaftslebens zu unterwerfen, der sie ein Ende gemacht hatten, weil sie – um mit Adam Smith zu reden – Regierungen in die Lage bringt, ‚in der sie aus einer Selbsterhaltung zu Unterdrückung und Tyrannei greifen müssen‘.“ Anders gesagt: Die Gesellschaft floh vor den Befehlen des vormals tonangebenden Adels und findet sich nun inmitten der Befehle einer sozialistischen Planungskaste wieder. Sie ist also nur vom Regen in die Traufe gekommen.

Eine weitere kognitive Schwierigkeit bei der diskursiven Erörterung dieser sozialistischen Dysfunktionalität liegt in den schlicht kontraintuitiven Dimensionen des Planungsbegriffs selbst: „Das Wort ‚Planung‘ verdankt seine Beliebtheit zum großen Teil der Tatsache, dass wir natürlich alle unser Leben so rational wie möglich gestalten möchten und dass wir dabei so viel Voraussicht walten lassen, wie es uns nur irgend möglich ist. Insoweit ist jeder, der nicht ein völliger Fatalist ist, ein Planwirtschaftler. Aber dies ist nicht der Sinn, in dem diejenigen, die sich für eine geplante Gesellschaft begeistern, den Begriff heute verwenden. Was unsere heutigen Planer verlangen, ist die zentrale Lenkung jeder wirtschaftlichen Tätigkeit nach einem einzigen Gesamtplan.“

Nach diesen klarstellenden Differenzierungen ist der Boden für die Erkenntnis bereit, dass es für menschliches Handeln schlicht nicht um die Frage geht, ob überhaupt geplant wird, sondern vielmehr darum, wie geplant wird und – vor allem – wer der Planer ist.

Hayek zeigt sich an dieser Stelle seiner Werkentwicklung durchaus als Vertreter einer Auf­fas­sung, die staatlichen Akteuren vertrauensvoll entscheidende Rahmen­setzungs­aufgaben zuweist. Der Liberalismus lehre nämlich nicht, dass Bürger alle Dinge sich selbst überlassen sollten. Er verlange vielmehr, „dass ein sorgfältig durchdachter rechtlicher Rahmen die Vorbedingung für ein ersprießliches Funktionieren der Konkurrenz“ sein solle. Denn der Liberalismus halte das Konkurrenzprinzip in der Wirtschaftsaktivität von Menschen der fremdbestimmten Planung gerade deswegen für überlegen, weil es „die einzige Methode ist, die uns gestattet, unsere wirtschaftliche Tätigkeit ohne einen zwangsweisen oder willkür­lichen Eingriff von Behörden zu koordinieren“. Der Wettbewerb als Ordnungsprinzip einer Gesellschaft erfordere daher durchaus bestimmte Arten staatlicher Aktivität. Der Wettbewerb als solcher müsse gesichert werden. Dies setze angemessene staatliche Rahmensetzung voraus: „Kein vernünftiger Mensch kann sich ein Wirtschaftssystem vorstellen, in dem der Staat ganz untätig ist.“

Das Ziel dieser staatlichen Rahmensetzungen muss jedoch nach der Beschreibung Hayeks stets darauf ausgerichtet sein, ein freies Wirtschaftssystem zu ermöglichen und abzusichern.

Wörtlich: „Einmal ist es nötig, dass die Beteiligten zu jedem Preis kaufen und verkaufen dürfen, zu dem sie einen Vertragspartner finden, und dass – wenn überhaupt irgendetwas produziert, gekauft oder verkauft werden darf – dies jedermann erlaubt sein muss. Ferner ist wesentlich, dass die unterschiedlichen Erwerbszweige allen zu gleichen Bedingungen offenstehen und dass das Recht sich jedem individuellen oder kollektiven Versuch widersetzt, die Gewerbefreiheit offen oder verdeckt gewaltsam zu beschränken. Jeder Versuch, Preise oder Mengen bestimmter Produkte zu regulieren, vereitelt eine befriedigende Koordination der Wirtschaftstätigkeit durch individuellen Wettbewerb, da Preisänderungen in diesem Fall nicht mehr die wesentlichen Datenänderungen registrieren und einzelnen Akteuren somit keine zuverlässigen Koordinationspunkte für ihre Wirtschaftstätigkeit liefern.“

Hat sich ein überreguliertes Wirtschaftssystem aber einmal in seinen Koordinations­be­mühungen durch die Planer verheddert, fährt es sich fest: „Ist einmal dieses Stadium erreicht, so bleibt außer der Rückkehr zum Wettbewerb nur noch die Möglichkeit der Monopol­über­wachung durch den Staat und wenn diese Überwachung wirkmächtig werden soll, so muss sie mit der Zeit immer umfassender und immer kleinteiliger werden.“ Die Ursache, dass staatlich koordinierte Wirtschaftssysteme in diesen fatalen Zustand hineinlaufen, sieht Hayek wesentlich darin, dass „die meisten Leute immer noch glauben, es müsse möglich sein, irgendeinen ‚Mittelweg‘ zwischen ‚atomistischem‘ Wettbewerb und zentraler Steuerung zu finden“. Genau hier aber mahnt Hayek zu regulatorischer Zurück­haltung. Denn wenn zwei sich wechselseitig ausschließende Prinzipien zur Lösung desselben Problems miteinander vermischt werden, dann kann keines von beiden noch funktionieren. Im Mittelpunkt müsse stehen, Planung zum Zwecke der Ermöglichung und des Erhaltes von wirtschaftlichem Wettbewerb zu betreiben, nicht aber Planung gegen den Wettbewerb.

Aus heutiger Sicht – 80 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Werkes – wird deutlich, mit welchen aktuellen Illusionen dieser immerwährende Streit zwischen angemaßter staatlicher Wirtschaftssteuerung und freier Marktentfaltung ausgetragen wird. Die Sehnsucht, Märkte planvoll in gerechte (und, wie es heute en vogue ist, ökologisch idealisierte) Bahnen lenken zu wollen, scheint inzwischen durch Digitalisierung und Totalüberwachung aller Akteure in greifbare Nähe gerückt zu sein. Doch auch in dieser Gestalt kollidieren wieder die Rigidität einer um Kontrolle bemühten Steuerungszentrale und die unbeherrschbare Buntheit der Realität in menschlicher Handlungsvielfalt. Welche Auswirkungen das für den Einzelnen hat, betrachtet Hayek im Folgekapitel.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Die angebliche Zwangsläufigkeit der Planwirtschaft | Kapitel 4

Das vierte Kapitel liefert in seinem Kern die ökonomische Dekonstruktion einer schein­plausiblen gesellschaftspolitischen Position durch Rationalisierung ihrer (zuge­stan­den­er­maßen: zunächst kontraintuitiven) Gegenposition. Hayek stellt dem Kapitel ein Zitat voran, das – obgleich inzwischen fast 100 Jahre alt – bis heute nichts von der verführerischen Kraft seiner bei flüchtigem Blick überzeugenden Evidenz verloren hat: „Wir waren die Ersten, die erklärt haben, dass die Freiheit des Individuums umso mehr beschränkt werden muss, je komplizierter die Zivilisation wird.“

Führt man dieses Zitat in eine beliebige Erörterung ein, wird man mit sehr hoher Sicherheit für das darin liegende Argument zunächst immer wieder schnell Zustimmung zu ernten. Doch in der Scheinplausibilität der Erwägung und in der gerade durch sie bewirkten bereitwilligen Akzeptanz des vorgestellten Prinzips liegt leider die Ursache jener gesellschaftlichen Gewalt, die das Argument in der Geschichte immer wieder mit fatalen Konsequenzen entfaltet: Ja, der Einzelne muss sich in der Tat bei der wachsenden Ausdifferenzierung der Zivilisation in eine immer unübersichtlicher werdende, hocharbeitsteilige, hyperkomplexe Weltsituation mit erheblicher Anpassungsfähigkeit einfügen. Je simpler die Umstände, desto geringer die Adap­tions­anforderungen; je verworrener die Gesellschaft, desto schwieriger das Anpassen. Aber die herausfordernde Leistung, sämtliche nötigen Adjustierungen an situativ immer neue Lagen meistern zu können, muss unausweichlich von einem handelnden Subjekt erbracht werden. Das Einfügen in die jeweilige Lage zur Beherrschung der konkreten Situation erfordert also, diese Lage sinnlich zu erkennen, sie gedanklich zu begreifen, sie mit den gegebenen (eigenen und fremden) Zielstellungen abzugleichen, die eigenen tatsächlichen Einflussmöglichkeiten abzuschätzen, den eigenen Einfluss dann wirklich auszuüben, die Auswirkungen daraus zu beobachten und alles anschließend weitere Agieren in die Dynamik der sich konsequent fortentwickelnden Umstände einzuweben.

Dieser Geschehensablauf aus Kognition und Reaktion, aus Lageanalyse und bewusst gewolltem zielgerichteten Eingreifen in die Welt kann schlechterdings nicht sinnvoll aus einer ortsfernen, selbst unbeteiligten Zentrale bewerkstelligt werden, sondern – soll es effektiv und effizient zugehen – eben nur von demjenigen Subjekt, das fern der Zentrale in der jeweils gegebenen, einzigartig peripheren Handlungsherausforderung steht. Je verwor­rener die Gesamtumstände werden, desto individueller wird also auch die Aufgabe, sie zu meistern. Jedes ferne, persönlich unbeteiligte abstrakte „Wir“ muss angesichts dieser Schwierigkeiten scheitern.

Durch diese Vorüberlegungen wird nun klar, warum das Zitat, demzufolge die individuelle Freiheit „beschränkt werden muss“, in der realen Welt stets fehlgeht. Denn die Freiheit kann eben an dieser Stelle nicht sinnvoll von einer steuernden Instanz willentlich beschränkt und erfolgreich geleitet werden. Die individuelle Freiheit wird vielmehr durch die gleichsam chaotischen Umstände einer komplexen Gesellschaft selbst ungeplant beschränkt und muss in dieser Lage die Problemlösung selbst bewerkstelligen. Dies kann kein fernes „Wir“ mit Erfolg leisten, sondern nur dasjenige individuelle Subjekt, das in der betreffenden Situation steht. Dass ausgerechnet der italienische Diktator Benito Mussolini der Urheber jener eingangs zitierten zentralplanerischen Scheinklugheit aus dem Jahre 1929 ist, kann also nicht erstaunen: Die faschistische Illusion, Menschen seien gedeihlich wirkmächtiger, wenn man sie zu Rutenbündeln verschnürt, verwechselt Größe mit Kraft und Gewalt mit Zielgenauigkeit.

Aus der Sicht seines Publikationsjahres 1944 stellte sich Hayek daher eine diskursive Situation dar, in der man den kleinteilig kreativen Wettbewerb unter verschiedenen individuellen Konkurrenten – gemäß der marxistischen Theorie über die „Konzentration des Kapitals“ – für überwunden hielt: „Die angebliche technische Ursache für das Anwachsen des Mono­polismus soll die Überlegenheit des Großbetriebs über den Kleinbetrieb sein“. Denn „der Vorteil der Massenproduktion (liege) unweigerlich in der Beseitigung des Wettbewerbs“. Hayek erklärte, dass diese Konzentrationsthese nicht überzeugend ist. Empirisch zeichnete er nach, wie insbesondere die deutsche Volkswirtschaft ab dem Jahre 1878 systematisch eine bewusste Bildung von Riesenmonopolen durch Staatssubventionen betrieben hatte: „Wenn die Deutschen und alle Völker, die ihr Beispiel nachahmen, sich immer mehr einer totalen Planwirtschaft verschreiben, so folgen sie nur der Linie, die einige Denker des 19. Jahrhunderts, vor allem in Deutschland, ihnen vorgezeichnet haben.“

Tatsächlich aber ist Hayeks Erkenntnis zufolge ein freier, suchender Wettbewerb unter kreativen Individuen jeder zentralen Planung ausgerechnet dort überlegen, wo die Lage definitiv unübersichtlich wird: „Weit entfernt davon, nur auf relativ einfache Verhältnisse anwendbar zu sein, wird der Wettbewerb gerade durch die Verwickeltheit der modernen Arbeitsteilung zur einzig brauchbaren Koordinierungsmethode. In dem Maße, wie die Faktoren, die zu berück­sichtigen sind, so zahlreich werden, dass man die Übersicht verliert, wird Dezentra­lisierung notwendig. Aber ist diese Dezen­tralisierung einmal geboten, dann taucht das Problem der Koordinierung auf. Jene Koordinierung, die es einzelnen Wirt­schafts­teilnehmern erlaubt, ihre Tätigkeit denjenigen Gegebenheiten, die gerade nur sie selber erkennen können, anzupassen, wodurch gerade nach allen Seiten eine Abstimmung der individuellen Pläne möglich wird. Weil diese Dezen­tralisierung also notwendig geworden ist, liegt auch auf der Hand, dass die Koor­di­nierung nicht durch eine ‚bewusste Überwachung‘ verwirklicht werden kann. Da nämlich niemals alle Einzelumstände einer einheitlichen Zentrale bis in das Letzte bekannt sein und die Daten von ihr nicht schnell genug erfasst und verarbeitet werden können, braucht es einen (scilicet: dezentralen) Funktionsmechanismus, der automatisch alle bedeutsamen Wirkungen und individuellen Handlungen aufzeichnet. Aus ihm ergeben sich dann die Wirkung und die Ursache aller weiteren individuellen Ent­schei­dungen. Und dies ist genau die Aufgabe, die in einem Wettbewerbssystem der Preismecha­nismus erfüllt.“

Rückblickend auf die zu diesem Zeitpunkt historisch gewachsene Ausdifferenzierung der Volkswirtschaften wagt Hayek die These, dass „wenn wir für die Entwicklung unserer Wirtschaftsordnung bewusst auf Zentralplanung angewiesen gewesen wären, sie niemals jenen Grad der Differenzierung, Komplexität und Elastizität hätte erreichen können, der tatsächlich zu beobachten ist“. Aber Hayek geht hier sogar noch einen Schritt weiter. Er webt in seine Erkennt­nis eine ernste Mahnung ein: „Wird das Wirtschaftssystem noch komplexer, dann wird nicht etwa eine zentrale Steuerung, sondern die Anwendung einer Koor­di­nie­rungs­methode, die gerade nicht auf eine solche bewusste Lenkung angewiesen ist, zur, zwingenden Notwen­dig­keit.“ Diese Weichenstellung werde dann für Gesellschaften „geradezu zu einer Lebensfrage“.

Während also – wie man es heute wohl nennen würde – die damalige ökonomische Debatte die Effizienzgewinne aus industriellen Skaleneffekten als den Sieg (staatlicher) Gesamt­planung über den kleinteiligen Wettbewerb missverstand, plädierte Hayek bereits dafür, in allen volkswirtschaftlichen Kontexten hinreichende Spielfelder für Überraschungen zur freien Entwicklung zu reservieren: „Das Argument zugunsten der Freiheit ist, dass wir einen gewissen Spielraum für das nicht vorauszusehende spontane Wachstum reservieren sollten.“

Hayek findet in diesem Kontext auch eine plausible Erklärung dafür, warum gerade Experten so oft dem Gedanken einer staatlichen Gesamtplanung huldigen. Das Phänomen hängt in seiner Analyse „eng mit der wichtigen Tatsache zusammen, dass fraglos fast jedes einzelne der technischen Ideale unserer Fachleute in verhältnismäßig kurzer Zeit verwirklicht werden könnte, wenn genau nur seine [singuläre] Verwirklichung zum einzigen Ziel der [ganzen] Menschheit erklärt würde“. Statt aber über „die herrlichen Autostraßen in Deutschland und Italien“ als Produkt staatlicher Planwirtschaft zu schwärmen, sollte man sich zugestehen, „dass solche auf die Spitze getriebene technische Vollkommenheit, die zu den allgemeinen Lebens­be­dingungen in Widerspruch steht, letztlich nur die Fehlleitung der Produktionsmittel beweist“. Aus genau diesem Grunde werden just jene Menschen, die am meisten von der Plan­wirtschaft begeistert sind, zur größten Gefahr des inner­gesell­schaftlichen Friedens, wenn man sie gewähren lässt. Denn Hayek beobachtete in ihnen die „intolerantesten Gegner der Planwirt­schaft eines jeden anderen“. Und diese denknotwendig zwangsläufige wech­se­l­sei­tige Intoleranz aller Freunde des Gesamtplanprinzips bleibt dann auch nicht ohne Auswirkung auf die emo­tio­nalen Befindlichkeiten der Beteiligten: „Von der Hingabe und Einseitigkeit des Idealisten zum Fanatismus ist oft nur ein einziger Schritt.“

Mit diesen Darstellungen ist das thematische Feld bereitet, um sich in den drei folgenden Kapiteln mit dem Phänomen der Planwirtschaft in ihrem Verhältnis zu Demokratie, zu Rechtsstaat und zu Totalitarismus zu befassen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Planwirtschaft und Demokratie | Kapitel 5

Der vielleicht beste gedankliche Zugang, um den Widerspruch zwischen staatlicher Gesamt­planung und Demokratie zu erkennen, liegt in einer Metapher, die Hayek am Rande seiner Darstellungen über Planwirtschaft und Demokratie verwendet: „Wenn Menschen dahin übereinkommen, dass es eine zentrale Planwirtschaft geben muss, [wenn aber gleichzeitig unter ihnen] über die Ziele verschiedene Ansichten herrschen, dann läuft das praktisch auf dasselbe hinaus, wie wenn eine Gruppe von Personen zu einer gemeinsamen Reise aufbricht, ohne sich zuvor über das Reiseziel geeinigt zu haben.“ Dies habe naturgemäß zur Folge, dass alle Beteiligten zuletzt eine Reise unternähmen, die viele – wenn nicht die meisten von ihnen – überhaupt nie angetreten hätten.

Hayek weiter: „Dass Planwirtschaft zu einer Situation führt, in der wir uns über weit mehr Punkte einigen müssen, als wir es gewohnt sind, und dass wir in einem planwirtschaftlichen System die gemeinsame Arbeit nicht auf Tätigkeiten beschränken können, zu denen Über­einstimmung erzielt werden kann, sondern dass wir zuletzt genötigt sind, sie in allem und jedem zu erzwingen, damit überhaupt eine Aktion unternommen werden kann, das ist eines der Merkmale von Planwirtschaft, das mehr als alle anderen ihr Wesen bestimmt.“

Bleibt man bei dem Bild einer Reise, so liegt auf der Hand, dass eine freiheitliche Gesellschaft ihren Mitgliedern nicht nur freistellt, wohin sie reisen möchten. Insbesondere kennzeichnet es eine solche Gesellschaft auch, dass sie weder jemanden zwingt, überhaupt eine Reise anzu­treten, noch dass sie jemandem vorgibt, mit wem er zu reisen hat. Diese Freiheiten kann aber ein solches Gemeinwesen nicht zulassen, das zentral darauf ausgerichtet ist, alle seine Mitglieder einem einheitlichen (Reise-) Ziel zuzuführen.

Allen kollektivistischen Systemen wohnt nun die Grundidee inne, sämtliche verfügbare Arbeitskraft zu einem bestimmten sozialen Zweck bewusst organisieren zu müssen: „Die verschiedenen Spielarten des Kollektivismus unterscheiden sich voneinander durch das Ziel, auf das sie die Produktionstätigkeit der Gesellschaft richten wollen. Sie haben aber alle mit­einander gemeinsam, dass sie – im Gegensatz zu Liberalismus und Individualismus – die Gesellschaft als Ganzes mit sämtlichen ihren Produktivkräften für dieses einzige Ziel organisieren wollen.“

Autonome Sphären des Individuums, in denen persönliche Wünsche Vorrang haben, müssen in solchen staatlichen Plankontexten unberücksichtigt bleiben. Denn: „Das ‚soziale Ziel‘ oder der ‚Gesamtzweck der Volkswirtschaft‘, für den die Gesellschaft [kollektiv] organisiert werden soll, wird üblicherweise nur unbestimmt bezeichnet als das ‚gemeine Beste‘ oder das ‚Gemeinwohl‘ oder das ‚Gemeininteresse‘. Man braucht nicht viel nachzudenken, um zu sehen, dass diese Ausdrücke viel zu allgemein gehalten sind, um einen bestimmten wirtschaftspolitischen Kurs zu bezeichnen.“

Um noch einmal die Metapher der Reise zu bemühen: In einer kollektiv organisierten Struktur verabredet man sich anfangs gemeinsam nur, um einen „schönen Ort“ oder eine „angenehme Landschaft“ aufzusuchen. Ob diese in den Bergen, an einem See, in der Wärme oder in der Kühle gelegen ist, wird nicht konkret verabredet. Die letzte Bestimmung darüber, wohin genau die Reise gehen wird, kann nämlich – wegen der Vielzahl unterschiedlicher Reisesehn­süchte aller Beteiligten – niemals einvernehmlich getroffen werden. Selbst wenn nur eine (knappe) Mehrheit über das exakte Ziel tatsächlich Konsens erzielt, haben sich auch alle Mitglieder der Minderheit in diesem Fall gegen ihren eigenen Willen dieser Reise anzu­schließen. Mehr noch: Um sie durchführen zu können, müssen nun alle Mitglieder der Gemeinschaft dazu veranlasst werden, sich in einer Weise zu verhalten, die der angezielten Richtung mit vielerlei Hilfs- und Nebentätigkeiten am besten dient. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein Beteiligter bei einem solchen Gesamtunternehmen zuletzt noch eine Tätigkeit ausübt, die überwiegend mit dem übereinstimmt, was er selbst je freiwillig hätte tun wollen, liegt praktisch bei null.

Was im Bild der Reise die gut vorstellbare individuelle Präferenz darüber ist, ob ein Mensch lieber durch einen Bergwald spaziert oder an einem Strand schwimmen geht, wird im gesamt­gesellschaftlichen Kontext insgesamt zur Frage nach den unterschiedlichen Wertprä­ferenzen und ihrer Harmonisierung unter Gesellschaftsmitgliedern nach allgemein akzep­tierten Regeln. Hayek: „In unserer Gesellschaft gibt es weder Anlass noch Grund dafür, dass sich alle Menschen übereinstimmende Ansichten darüber bilden, was jeder in der einen oder der anderen Lage tun soll. Aber da, wo alle Produktionsmittel [staatliches] Kollektiveigentum geworden sind und im Namen der Allgemeinheit nach einem einzigen einheitlichen Plan verwendet werden sollen, da muss eine ‚kollektive‘ Orientierung der wirtschaftlichen Aktivität sämtliche Entscheidungen vorgeben. In einer solchen Welt wird man bald fest­stellen, dass unser Moralkodex voller Lücken ist.“

Es lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass Menschen, die sich voneinander durch ihre vielfältigen Persönlichkeiten unterscheiden, keine insgesamt einheitliche und allumfassende Wertskala haben können: „Es überstiege Menschenkraft, die unendliche Mannigfaltigkeit der verschiedenen Bedürfnisse aller unterschiedlichen Menschen, die sich verfügbare Produk­tions­mittel teilen müssen, zu erfassen.“ Um dieses Koordinationsproblem für ein gedeih­liches Zusammenwirken in einer Gesellschaft moralisch vertretbar lösen zu können, schlagen der Liberalismus und die Philosophie des Individualismus vor, den freien Willen eines jeden Einzelnen in möglichst umfassendem Sinne zum Gegenstand seines Respektanspruches allen anderen gegenüber zu erküren.

„Dies ist die Grundlage, auf der die ganze Philosophie des Individualismus beruht. Sie nimmt nicht – wie oft behauptet wird – an, dass der Mensch egoistisch ist oder es sein sollte. Sie geht vielmehr nur davon aus, dass die begrenzte Phantasie eines jeden einzelnen Menschen ihm nicht erlaubt, in seine Wertskala mehr als einen ihm überschaubaren Bereich gesamt­gesell­schaft­licher Bedürfnisse aufzunehmen. Daraus zieht der Individualist den Schluss, dass es jedem Individuum freistehen sollte, innerhalb bestimmter Grenzen nach eigenen Wertvor­stellungen und Neigungen zu leben, statt nach denen anderer. Diese Anerkennung des Individuums als des obersten Richters über seine eigenen Ziele bildet den Wesensgehalt des Individualismus.“

„Soziale Ziele“ sind in diesem Begriffsrahmen also jene Ziele, die von einer Vielzahl von Individuen unabhängig voneinander, aber parallel identisch angestrebt werden. Ihr gemein­sames Handeln erstreckt sich somit lediglich auf jene Gebiete, auf denen unter den Handeln­den Konsens über die (gemeinsame) Zielverfolgung herrscht. Ob das je gemeinsam verfolgte Ziel dabei das endgültige eines Akteurs ist oder nur sein individuelles Zwischenziel, um anschließend alleine oder mit anderen Menschen noch ganz neue, weitergehende und abweichende Zwecke zu erreichen, wird in diesem Kontext bedeutungslos: „Sehr oft werden solche gemeinsamen Ziele nicht das jeweils letzte Ziel eines jeden Individuums sein, sondern sie sind oft nur Mittel, die verschiedene Personen dann wiederum ihren verschiedenen individuellen Zwecken weiter dienstbar machen können.“

Damit wird klar, dass das entscheidende Kriterium allen gemeinsamen Handelns in einer freiheitlichen Gesellschaft die Einigung der Beteiligten über ihren Kooperationswillen sein muss. Niemand wird hier gezwungen, sich an einer bestimmten Reise zu beteiligen, sondern jedem steht frei, sich einer Reisegesellschaft – vielleicht auch nur vorübergehend – anzu­schließen, um sein eigenes Reiseziel zu erreichen, sofern alle übrigen Mitreisenden nur auch ihrerseits damit einverstanden sind, dieses Reiseteilstück gemeinsam zu bewältigen. Daraus folgt: „Die Grenzen dieser Sphäre gemeinschaftlichen Handelns bestimmen sich also danach, inwieweit die Individuen sich über besondere Ziele einigen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich über ein besonderes Aktionsprogramm verständigen, nimmt notwendigerweise umso mehr ab, je umfassender dieses wird.“

Besonders konfliktträchtig muss sich eine gesellschaftliche Lage voraussehbar dann ent­­wickeln, wenn der Versuch unternommen wird, ein unbestimmtes Handlungsziel – wie etwa das mit dem Namen „Gemeinwohl“ – mit demokratischen Mehrheitsentscheidungen zu definieren und anzuzielen. Ein solcher Kurs setzt nämlich mehr Übereinstimmung in den Details voraus, als dies in der Realität je unter Menschen bestehen könnte. Die Bewältigung der fehlenden Übereinstimmung bringt – durch den daraus folgenden Mangel an Respekt gegenüber individuellen Handlungsfreiräumen – dann bald auch den Charakter der Freiheitlichkeit in einer solchen Gesellschaft grundlegend in Gefahr: „Die Unfähigkeit demokratischer Körperschaften, einen anscheinend eindeutigen Auftrag des Volkes auszuführen, wird unvermeidlich Unzufriedenheit mit den demokratischen Einrichtungen wachrufen. Parlamente werden dann als nutzlose ‚Schwatzbuden‘ betrachtet. Dann gewinnt die Überzeugung Boden, dass die Steuerung aus den Händen der Politiker in die von Sachverständigen gelegt werden müsse.“

Hayek unterlegt diese Abkehr von einer freiheitlichen Gesellschaft aus individuellen Bürgern und ihren Übergang in eine kollektivistisch-fremdbestimmte Gesellschaft aus bürokratisch unterworfenen Akteuren mit einer volkswirtschaftlichen Statistik des Jahres 1928: „Wo, wie dies zum Beispiel auf Deutschland bereits im Jahre 1928 zutraf, den Behörden die Verwendung von mehr als der Hälfte des Volkseinkommens untersteht (nach einer offiziellen deutschen Schätzung waren es 53 Prozent), da sind diese Behörden indirekt die Herren über das fast ganze Wirtschaftsleben der Nation.“

Hayek mahnt, sich klarzumachen, warum es Parlamente aus diesen Gründen nicht darstellen können, das ganze Wirtschaftsleben eines Landes in allen Einzelheiten zur Staats­an­gelegen­heit zu machen. „Jedes Mitglied der Legislative mag zwar lieber einen bestimmten Plan für die Lenkung der Volkswirtschaft als überhaupt keinen sehen, aber es ist durchaus möglich, dass keinem einzigen Plan von einer Parlamentsmehrheit der Vorzug vor völliger Planlosigkeit gegeben wird.“

Hayek sah bereits 1944 deutlich, dass die fehlenden Steuerungsmöglichkeiten in derart komplexen Systemen durch den parlamentarischen Gesetzgeber andere Regelungslösungen provozieren mussten. Schon damals erkennbar, verschiebt sich die staatliche Anordnungs­macht in diesem Falle von der schwerfälligen Legislative in die flexiblere Exekutive. „Es wird versucht, eine Ermächtigungsgesetzgebung durch den technischen Charakter der Aufgabe zu rechtfer­ti­gen. Aber das bedeutet nicht, dass nur Fragen über technische Details im Wege der Ermächti­gung erledigt werden.“ Hayek zitiert aus einem britischen Regierungsbericht von 1932, dem zufolge das Parlament seine Zuflucht bereits zu diesem Zeitpunkt empirisch erkennbar in eine Praxis „wahlloser En-bloc-Ermächtigungen“ genommen hatte. Ursache dieser umfänglichen Exekutivermächtigungen sei nach dem Urteil des Berichtes gewesen, dass das Parlament jedes Jahr zu viele Gesetze erlasse, als dass sie wegen ihrer technischen Details überhaupt noch für eine Diskussion im Parlament geeignet gewesen seien.

In einem solchen Übergang der staatlichen Regulierungsmethodik – weg von allgemeinen Gesetzen aus der Feder der Legislative hin zu Einzelmaßnahmen der Exekutive – liegt indes auch ein fataler Schritt heraus aus dem Kontext des Demokratischen: „Die Übertragung bestimmter technischer Aufgaben an selbständige Instanzen ist eine gewohnte Erscheinung, und doch ist sie schon der erste Schritt auf dem Wege, auf dem eine zur Planwirtschaft übergehende Demokratie ihre Macht Stück für Stück aufgibt.“

Je chaotischer sich die Lage in einer aus unbestimmten Gemeinwohlerwägungen verwirrten Gesellschaft darstellt, desto mehr greift eine allgemeine Mutmaßung Platz, die Unordnung müsse von einem ordnenden Geist wieder beendet werden: „Immer mehr greift dann die Meinung um sich, dass die verantwortlichen Behörden von den Fesseln des demokratischen Verfahrens befreit werden müssen, wenn irgendetwas durchgesetzt werden solle. Der Ruf nach einem Wirtschaftsdiktator bezeichnet ein charakteristisches Stadium in der Entwicklung zur Planwirtschaft.“

Vergleicht man diese demokratietheoretische Analyse Hayeks aus dem Jahre 1944 80 Jahre später mit der Weltpandemie ab dem Jahre 2020, so wird deutlich: Die Ermächtigung der Exekutive und die Illusion, sachverständige Experten könnten eine globale Gesamtsituation gedeihlich ordnen, war somit ebenso erwartbar fehlgehend wie strukturschädigend für die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Staatsorganisation. Der von Hayek als „Ruf nach einem Wirtschaftsdiktator“ bezeichnete Impuls erinnert zudem fatal an die Vorstellung mancher heute umweltschützenden Zeitgenossen, es müsse nur der richtige Druck auf Menschen ausgeübt werden, um sie zur Herbeiführung von Zielen im ökologischen Gemeinwohl bewegen zu können.

Nicht wenig besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang die Diagnose Hayeks, für einen Zeitpunkt fünf Jahre nach der beschriebenen deutschen Staatsquote von 53 Prozent im Jahre 1928 zu konstatieren: „Man darf nicht vergessen, dass Deutschland schon einige Zeit vor 1933 ein Stadium erreicht hatte, in dem es diktatorisch regiert werden musste. Es stand damals außer Zweifel, dass die Demokratie auf absehbare Zeit zusammengebrochen war. Hitler brauchte die Demokratie nicht zu vernichten; er nutzte nur ihren Zerfall aus.“

Es ist, erläutert Hayek weiter, eine gefährliche Illusion, zu glauben, eine Gesellschaft könne sich erlauben, Planwirtschaft zu betreiben, solange das Ganze nur demokratisch überwacht bleibe. Ab dem Moment, in dem beauftragte Behörden in den unausweichlichen Handlungs­zwang kämen, zwischen verschiedenen Zielen wählen zu müssen, verliere das Parlament den eigenen Überblick und mithin auch allen eigenen überwachenden oder steuernden Einfluss auf die Lage.

Hayek prognostizierte, dass sich ein solches System auf eine plebiszitäre Diktatur hin entwickeln werde. Das freiheitlich wünschenswerte Gegenbild beschrieb er mit den Worten: „Demokratie ist nur um den Preis zu haben, dass allein solche Gebiete einer bewussten Lenkung unterworfen werden, auf denen eine wirkliche Übereinstimmung über die Ziele besteht, während man andere Bereiche sich selbst überlassen muss. Aber in einer Gesellschaft, die durch eine zentrale Planwirtschaft reguliert wird, ist es unmöglich, zu warten, bis sich eine Mehrheit findet, die sich auf solche Ziele einigen kann. Dann wird es notwendig, dem Volk den Willen einer kleinen Minderheit aufzuzwingen, weil diese Minderheit das äußerste Maximum von Individuen darstellt, das sich über eine betreffende Frage noch einigen kann. Es ist das große Verdienst des Liberalismus, dass er die Zahl der Fragen, über die man sich in einem Staat einigen musste, auf solche wenige beschränkte, für die es eine breite gesellschaftliche Übereinstimmung freier Menschen noch mit Wahrscheinlichkeit geben konnte.“

Lasse sich eine Demokratie hingegen von einer kollektivistischen Ideologie überwältigen, so schaufele sie sich damit unweigerlich ihr eigenes Grab. Hayek schließt das Kapital ab mit einigen Begriffsabgrenzungen. Er stellt klar, dass selbst eine Diktatur als solche nicht zwangs­läufig alle Freiheiten insgesamt vernichten müsse. Umgekehrt aber führe Planwirt­schaft gerade deswegen stets in eine dann umfassend freiheitsvernichtende Diktatur, „weil diese das wirksamste Instrument der Gewaltanwendung und der Aufzwingung von Idealen ist und als solches unvermeidlich wird, wenn eine zentrale Planung großen Stiles durchgeführt werden soll“.

Aus diesem Grunde müsse auch eine realisierte „Diktatur des Proletariats“ die persönlichen Freiheiten ebenso restlos austilgen wie die schlimmste Autokratie. Der Glaube, dass eine Regierung dann niemals eine Willkürherrschaft werden könne, wenn sie nur wenigstens das Produkt einer demokratischen Wahl sei, ist Hayek zufolge leider ebenfalls unbegründet. Denn nicht der Ursprung, sondern nur die Begrenzung von Regierungsgewalt verhindere Willkür. Wenn es sich Demokratien zur Aufgabe machen, Staatsgewalt dafür einzusetzen, um unbe­stimmt konturierte Ziele zu verfolgen, dann werde sich daraus Willkürherrschaft entwickeln. Allenfalls die Orientierung an festen Normen könne das verhindern.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Planwirtschaft und Rechtsstaat | Kapitel 6

Die Vorhersehbarkeit staatlicher Handlungen bildet die wohl wesentlichste Perspektive für Hayeks Betrachtung der rechtstheoretischen Dimension einer staatlichen Planwirtschaft: „In keinem Punkt unterscheiden sich die Verhältnisse in einem freien Land von denen in einem willkürlich regierten deutlicher als darin, dass man sich in dem ersteren an jene Grundsätze hält, die wir unter dem Begriff des Rechtsstaates zusammenfassen. Er besagt, dass die Regie­rung in allen ihren Handlungen an Normen gebunden ist, die im Voraus festgelegt und bekannt­gegeben sind.“

In rechtlicher Hinsicht bezeichnet der Unterschied zwischen privater Wirtschaftsfreiheit und staatlicher Wirtschaftslenkung also letztlich nur einen Sonderfall der Differenz zwischen Rechtsstaat und Willkürherrschaft. Um selbst flexibel zu bleiben, muss eine staatliche Wirtschaftsbehörde von der Bindung an Gesetze freigestellt werden. Damit erscheint eine rechtsstaatliche Gesellschaft mit allgemeingültigen Regeln hier und eine planwirtschaftliche mit stets überraschend neuen behördlichen Entscheidungen dort wie der Blick auf zwei Welten, in denen hier allgemeingültige Verkehrsschilder für jedermann aufgestellt sind und dort ein Polizist agiert, der seine ordnenden Weisungen unvorhersehbar, von Fall zu Fall vornimmt.

Gleichsam im Vorbeigehen nimmt Hayek in diesem Kontext einen weiteren zentralen Gedanken vorweg, für den – bis heute – die Rechtstheorie von John Rawls (1921–2002) gefeiert wird: „Gerade der Umstand, dass wir die konkrete Wirkung der Normen nicht kennen, ist das wichtigste Kennzeichen jener Normen, die wir als formale Rechtsnormen bezeichnen.“

Sodann beschreibt Hayek den eigenwilligen kontraintuitiven Effekt, der schon seine Darstellung der angeblichen Zwangsläufigkeit von Planwirtschaft wesentlich geprägt hatte: Ein Weniger an Wissen über die Zukunft ist einer Gesellschaft dienlicher als die staatliche Anmaßung, künftiges Wissen durch den erzwungenen Eintritt künftiger Szenarien als definitiv zu gestalten: „Unserer Zeit, die sich für die bewusste Lenkung von allem und jedem begeistert, mag es paradox erschei­nen, wenn wir es als einen Vorzug bezeichnen, dass wir über die individuellen Wirkungen von Staatsmaßnahmen weniger wissen. Doch liegt gerade hier die tiefere Begründung des großen liberalen Prinzips des Rechtsstaates. Das, was als paradox erscheint, leuchtet sofort ein, wenn wir noch eine weitere Erwägung anstellen.“

Diese weitere Erwägung beleuchtet – nun unter rechtstheoretischem Blickwinkel – wiederum einen Gedanken aus dem vorangegangenen Kapitel; nämlich den, dass Demokratie nur um den Preis zu verteidigen sei, dass alleine solche Gebiete der bewussten Lenkung unterworfen werden, auf denen eine wirkliche Übereinstimmung der Bürger über ihre Ziele besteht. Für die konkrete Gesetzestechnik und -arbeit bedeutet dies: „Der Staat sollte sich auf die Setzung von Normen beschränken, die sich auf allgemeine typische Situationen beziehen.“ Denn nur unter dieser Voraussetzung wird staatliches Handeln in der Zukunft überhaupt vorhersehbar und also auch berechenbar. Gänzlich anders liegen die Dinge in einer willkürlichen Planwirtschaft. Dort lenkt der Staat die Individuen jeweils flexibel nach eigenem Gusto, um konkrete eigene Ziele zu erreichen. Sein Handeln wird dadurch für die Betroffenen aber unvorhersehbar und unüber­sicht­lich. Und genau das bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Bürger: „Daraus erklärt sich die bekannte Tatsache, dass, je mehr der Staat ‚plant‘, das Planen für den Einzelnen umso schwieriger wird.“

Ein weiterer fataler Nebeneffekt von Rahmenumständen, die diese staatliche Flexibilität benö­tigen und ermöglichen, liegt ganz wesentlich im Verlust der Neutralität staatlichen Handelns: „In einer Welt, in der alles genau im Voraus bestimmt sein soll, kann der Staat kaum irgend­etwas tun, ohne seine Unparteilichkeit zu verlieren. Der Staat ist dann nicht mehr eine Art [neutrale] Maschinerie, die auf [allgemein-abstrakten] Zweckmäßigkeitserwägungen beruht und der den Individuen eine Hilfe zur vollsten Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit sein soll, sondern er wird jetzt eine ‚moralische‘ Anstalt, die ihre eigenen Ansichten über alle Fragen der [guten] Moral [und ihrer Verwirklichung] den Staatsbürgern aufzwingt.“

Da dort nun alle Produktivitätskräfte einer einzelnen Planungsstelle zugewiesen sind, muss auch diese einzelne Stelle „zwischen höheren Löhnen für Pflegerinnen und Ärzte oder ausge­dehnter Krankenfürsorge, zwischen mehr Milch für Kinder oder höheren Löhnen für Land­arbeiter“ und allen anderen möglichen Wertpräferenzen wählen. Mit diesen ausufernden behördlichen Abwägungsentscheidungen dehnt sich also der Bereich aus, in dem der Staat mit seinem eigenen Koordinatensystem vorgibt, was „angemessen“ und was „vernünftig“ ist. Der Gummiparagraph in den Händen der Politik wird so zum Totengräberspaten für den Rechts­staat: „Man könnte eine Geschichte des Unterganges des Rechts­staates unter dem Gesichts­punkt des zunehmenden Eindringens dieser Kautschukparagraphen in Gesetzgebung und Rechtsprechung schreiben.“ Recht und Rechtspflege werden „zu einem bloßen Instrument der Politik“.

Dies bleibt natürlich auch nicht ohne fundamentale rechtstheoretische Auswirkungen: „Der Rechtsstaat in dem Sinne der Herrschaft der formalen Rechtsnormen, die keine gesetzlichen Vorrechte für bestimmte von der Regierung ausgewählte Einzelpersonen kennt, sichert jene Gleichheit vor dem Gesetz, die das Gegenteil von Willkürherrschaft ist.“ Im Umkehrschluss gilt: Ohne solche formalen Rechtsnormen (mit der Gleichheit vor dem Gesetz) droht die Herrschaft des instrumentalisierten Rechtes zu einem Willkürapparat zu mutieren.

Hayek weist darauf hin, dass alle Sozialisten – einschließlich der Nationalsozialisten – von jeher gegen eine solche klare formale Gerechtigkeit agitiert und stattdessen eine „Soziali­sierung des Rechts“ angestrebt haben. Dieser rechtstheoretischen Abirrung gilt erkennbar auch die von Hayek dem gesamten Kapitel prominent vorangestellte Zitierung Karl Mannheims. Dessen Auffassung zufolge müsse das Grundprinzip des formalen Rechtes, Rechtsfälle nach allgemein logischen Kriterien gleich zu beurteilen, mit dem liberalen „Konkurrenzkapitalismus“ am besten ganz beseitigt werden.

Die bedrückende Vorstellung, dass es für die Machtbefugnisse eines Gesetzgebers keine Grenzen gebe, ist in der Analyse Hayeks „ein Ergebnis der Lehre von der Volkssouveränität und des Demokratismus“. Hierin liegt die grundlegende Schwierigkeit des Rechts­posi­ti­vis­mus: „Ein Regierungsakt kann juristisch legal sein und doch dem Rechts­staat widersprechen. Wenn das Gesetz sagt, dass diese oder jene Behörde nach Belieben handeln darf, so ist alles, was diese Behörde tut, legal, aber ihre Akte entsprechen sicherlich nicht mehr dem Prinzip des Rechts­staates. Das Prinzip des Rechts­staates ist daher gleichbedeutend mit einer Einschränkung des Bereichs der Gesetzgebung.“

Hayek gründet seine dahingehende Rechts­philo­sophie gleichermaßen auf Kant und Voltaire, die er beide mit dem Gedanken zitiert: „Der Mensch ist frei, wenn er keiner Person, sondern nur den Gesetzen zu gehorchen braucht.“ Wie wenig die Freunde staatlicher Wirt­schafts­planung diese inhärenten Widersprüchlichkeiten zwischen einerseits individuellen Rechten und andererseits gesamtökonomischen Planungszwängen verstanden haben, illustriert Hayek am Beispiel von Herbert George Wells (1866–1946): „Dass ein führender Verfechter der vollständigen Zentral­planung wie H. G. Wells gleichzeitig eine glühende Verteidigung der Menschenrechte verfasst, ist rührend, aber charakteristisch für die geistige Verwirrung, in die so viele unserer Intellek­tuellen geführt worden sind. Wie in einer planwirtschaftlichen Welt die Reise- und Wander­freiheit gesichert werden soll, wenn nicht nur die Verkehrsmittel und Währungen der Zwangs­wirtschaft unterliegen, sondern auch der Standort der Industrien kommandiert wird, oder wie die Pressefreiheit gewahrt werden soll, wenn die Papier­be­lie­ferung und der Vertriebsapparat in der Hand der Planbehörde liegen, das alles sind Fragen, die H. G. Wells so wenig wie irgendein anderer Planwirtschaftlicher beantwortet.“

Überträgt man diese Betrachtung Hayeks über Währungen und Pressefreiheit auf die inzwischen diskutierten Phänomene einer Digitalwährung aus der einheitlichen Hand einer Zentralbank und auf staatliche Befugnisse, journalistische Arbeit zu zensieren, wird deutlich, welche planwirtschaftlichen Angriffe auf die überkommenen Menschenrechte aktuell zur Debatte stehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Planwirtschaft und Totalitarismus | Kapitel 7

Nachdem Hayek das Verhältnis der Planwirtschaft zu Demokratie und Rechtsstaat analysiert hat, widmet er sich im siebten Kapitel des Buches dem Verhältnis zwischen Planwirtschaft und Totalitarismus: „Die meisten Planwirtschaftler, die sich ernsthaft mit der praktischen Seite ihrer Aufgabe beschäftigt haben, geben sich keiner Illusion darüber hin, dass eine Plan­wirt­schaft mehr oder weniger nach den Prinzipien der Diktatur betrieben werden muss.“

Warum ist das so? In modernen Massengesellschaften lebt kein Mensch mehr für sich alleine, sondern er ist praktisch für alles, was er zu seinem Leben benötigt, auf die Hilfe anderer ange­wiesen. Wird der Warenstrom zwischen Produzenten und Konsumenten aber nicht mehr von einzelnen frei agierenden Menschen koordiniert, sondern von einer zentral gelenkten Wirt­schafts­pla­nungs­be­hörde, dann muss diese sowohl über den Einsatz aller Mittel als auch über die Festlegung aller Ziele bestimmen: „Wer die gesamte Wirtschaftstätigkeit lenkt, verfügt über alle Mittel zur Erfüllung aller Wünsche und muss daher entscheiden, welche befriedigt werden und welche nicht.“ Das führt zu der Definition: „Wirtschaftliches Kommando ist die Herrschaft über die Mittel für all unsere Ziele.“

Da allerdings auch Behörden selbst nur aus Menschen bestehen, die ihre eigenen Ansichten zur Grundlage ihres planenden Tuns machen, werden die privaten Präferenzen der Hersteller und Konsumenten nun durch die der Beamten ersetzt: „Nicht unsere Ansicht über unsere Neigungen und Anstrengungen wäre [in einem solchen System] maßgebend für das, was wir erhalten würden, sondern die Privatansicht eines anderen.“ Und: „Die mit der Überwachung der Produk­tion und der Preise verbundene Macht ist fast unbegrenzt.“

Aus der Sicht des Jahres 2024 lesen sich manche von Hayek verwendete Konjunktive geradezu beklemmend. Wo er noch formulierte, dass die Neigungen der Konsumenten in einer Plan­wirt­schaft nicht mehr maßgebend „wären“, da ist dieser Zustand heute, 80 Jahre später, in weiten Teilen bereits erreicht. Die Ansichten der staatlichen Planungsbehörden über Verbren­nungs­motoren, Kernkraftwerke, Gasheizungen oder Fleischkonsum verdrängen aktuell mit Macht die freien Wahlentscheidungen der Bürger. Und auch im Bereich des Geldes schickt sich die Realität an, die Warnungen Hayeks zu überholen: „Wir werden die Tragweite dieser Funktion des Geldes [als eines der großartigsten Freiheitswerkzeuge, das der Mensch je erfunden hat] besser ver­stehen, wenn wir uns überlegen, was die weitgehende Ersetzung des ‚Gewinnmotivs‘ durch ‚nichtökonomische Anreize‘ in Wahrheit bedeuten würde. Wenn alle Belohnungen statt in Geld in Form von öffentlichen Auszeichnungen ausgeteilt würden, so hieße dies nichts anderes, als dass der Empfänger nicht mehr wählen darf.“ Hayek nimmt mit dieser Beschreibung die Dystopie vorweg, die droht, wenn Bezahlungen nicht mit Geld, sondern mit digitalen Sozial­belohnungspunkten erfolgen.

Doch noch weit schlimmer als die Eingriffe der Planwirtschaft auf die Konsumentenseite wirken sich die Bevormundungen auf der Produktionsseite aus: „Die meisten Planwirtschaftler ver­sprechen uns zwar, dass die Freiheit der Berufswahl in der neuen kollektivistischen Gesellschaft gewissenhaft beibehalten oder sogar noch ausgedehnt werden wird. Aber in dieser Hinsicht versprechen sie mehr, als sie beim besten Willen halten können. Wollen sie Planwirtschaft betreiben, so müssen sie entweder den Zustrom zu den verschiedenen Erwerbszweigen und Berufen überwachen oder die Lohnbedingungen oder beides.“ Auch diese Effekte sind aus heutiger Sicht mit feingliedrigen Berufszugangsbeschränkungen und Preisregulierungen längst verwirklicht. Und damit niemand aus der Reihe tanzt, was den Gesellschaftsapparat stören könnte, muss alles streng vereinheitlicht werden: „Wir alle müssen uns dem Standard anpassen, den die Planwirtschaftsbehörde zur Vereinfachung ihrer Aufgabe festlegen muss.“

In Ansehung gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich zunehmend – planwirtschaftlicher Notwendigkeit folgend – totalisieren, stellt sich natürlich die Frage, warum Menschen diesen Organisationsbestrebungen für ihr Gemeinwesen überhaupt folgen. Ursache der Bereitschaft, sich diesen Bestrebungen zu unterwerfen sei, beschreibt Hayek, der Wunschtraum eines möglichen Güterüberflusses: „Der Leser kann sich darauf verlassen, dass jeder, der vom möglichen Güterüberfluss spricht, entweder unehrlich ist oder nicht weiß, was er redet!“

Denn Güterüberfluss wird es nicht geben, auch wenn es menschlich noch so verständlich sei, diesen glücksverheißenden Zustand zu erträumen: „Die Begeisterung für die ‚Kollek­tiv­be­frie­digung unserer Bedürfnisse‘, durch die unsere Sozialisten dem Totalitarismus den Weg geebnet haben, muss zum Teil als ein Mittel der politischen Erziehung verstanden werden. Aber wir haben es hier wiederum mit einem notwendigen Ergebnis der Planwirtschaft zu tun, deren Wesen darin besteht, dass sie uns die Freiheit der Wahl nimmt, um uns das zuzuteilen, was gerade am besten in den Plan hineinpasst.“

Gut fünf Jahre, nachdem Hayek diese Zeilen publiziert hatte, wurde in Ost-Berlin von über­zeugten Sozialisten die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Deren Bewohner sollten lernen, welche prophetische Kraft die rechtliche und ökonomische Analyse Hayeks hatte. Hinter Mauer und Stacheldraht entstand – für gewöhnliche Bürger unentrinnbar – eine totalitäre Wirtschaftsstruktur, die Produktion und Konsum staatsplanerisch vorgab. Privatwirtschaftliches Handeln wurde verunmöglicht, die Währung war gegen westliche Devisen nicht konvertibel und Schlangen bildeten sich vor solchen Läden, die umständehalber gerade den einen oder den anderen Gegenstand breiten Interesses anbieten konnten. Die praktisch umgesetzte Planphantasie war – wie in der theoretischen Beschreibung als erwartbar voraus­gesagt – zur real existierenden Diktatur erstarrt.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Wer regiert wen? | Kapitel 8

Nach­dem die syste­matisch zwangs­läufige Not­wen­digkeit des über­griffig Totali­tären und des kompro­miss­los Dikta­to­rischen in einer plan­wirtschaft­lich orga­ni­sierten Gesell­schaft beschrieben sind, widmet sich Hayek folgerichtig der anschließenden Frage, wer denn in einer solchen Konstruktion die Regierungsmacht über wen ausübt.

Hierzu blendet er zu Kontrastzwecken zunächst noch einmal zurück auf die Differenz zwischen einer staatlich geplanten und einer freiheitlich selbstorganisierten Struktur: „Wir haben die Wahl zwischen einem System, in dem der Wille einiger [mächtiger] Personen darüber entscheidet, wer etwas bekommt und was genau das ist, und einem solchen, in dem dies mindestens zum Teil von der Fähigkeit und dem Unternehmergeist der Betreffenden abhängt und zum Teil von unvorhersehbaren Umständen.“ Wenn nämlich nicht mehr die dezentral an vielen Stellen gefassten Beschlüsse unterschiedlicher Individuen über die Gegenstände ihrer Produktion und die Art ihres Konsums entscheiden, sondern ein von wenigen machtvollen Personen zentral ausformulierter Gesamtplan, dann wird die Zuteilung von Produktionsmitteln und ihren Ergebnissen plötzlich zur alles vorherbestimmenden Frage. Und diejenigen, die auf diese Frage die Antworten geben, haben dann eine gesellschaftliche Steuerungsfunktion, die es zuvor gar nicht gab.

„Sozialisten vergessen, dass sie durch Übertragung des gesamten Eigentums an den Produktionsmitteln auf den Staat genau diesen Staat in eine Lage versetzen, in der seine Politik tatsächlich über die Einkommen aller anderen bestimmen muss. Es wäre falsch, dabei anzunehmen, dass es sich hierbei um eine bloße Verschiebung einer schon bestehenden Macht vom Individuum auf den Staat handelt. Es ist vielmehr eine Macht, die ganz neu geschaffen wird und die in einer Marktwirtschaft gar niemand besitzt.“

Das Entstehen dieser qualitativ ganz neuen Machtposition in einer Planwirtschaft zerstört sodann zwangsläufig auch die vorher noch gegebenen individuellen Entscheidungs- und mithin Freiheitsspielräume: „Weil die Herrschaft über die Produktionsmittel sich [in einer freiheitlichen Ordnung] auf viele verschiedene Menschen verteilt, die unabhängig voneinander handeln, sind wir dort niemandem ausgeliefert, so dass wir als Individuen entscheiden können, was wir tun und lassen können. Befänden sich aber sämtliche Produktionsmittel in nur einer Hand, dann hätte derjenige, der gerade diese Herrschaft ausübt, uns vollständig in seiner Gewalt.“ Gibt es hundert Bäcker in einer Stadt, dann ist es für den Einzelnen ungefährlich und unschädlich, wenn fünfzig dieser Bäcker ihn nicht mögen, denn er kann sein Brot ohne Weiteres bei einem der anderen fünfzig kaufen. Gibt es aber nur eine einzige Bäckereigesellschaft mit untergeordneten Filialen, dann schneidet der Boykott eines Kunden diesen vollends von der Brotversorgung ab. Greift dieser Mechanismus nicht nur für Bäckereien, sondern für alle Güter des Lebensbedarfes, liegt die Freiheitszerstörung auf der Hand: Die neue Macht der Bürokraten hat das Potenzial, den Einzelnen in allen seinen Lebensbereichen völlig zu steuern und zu beherrschen.

Fatal ist, dass sensiblere Sozialisten diesen Ablauf bereits selbst erkannt hatten. Hayek zitiert den amerikanischen Schriftsteller Max Forrester Eastman (1883–1969), dessen Erkundungen des Sozialismus und Kommunismus in der Theorie und Praxis ihn schließlich feststellen ließen: „Marx ist es, der uns im Hinblick auf die Vergangenheit darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Entwicklung des Privatkapitalismus und der freien Marktwirtschaft eine Vorbedingung für die Entwicklung aller unserer demokratischen Freiheiten gewesen ist. Es ist ihm jedoch nie in den Sinn gekommen, dass jene anderen Freiheiten mit der Abschaffung des freien Marktes verschwinden könnten.“

Die Mutation des frei disponierenden Bürgers in einen um behördliche Gunst buhlenden Untertanen ist in diesem Kontext schlechterdings unausweichlich: „In einer Planwirtschaft werden wir alle wissen, dass es uns besser oder schlechter geht als anderen, weil eine Behörde es so will. Und unsere Anstrengungen, die wir zur Verbesserung unserer Lage unternehmen, werden sich darauf richten müssen, uns die Obrigkeit, die die gesamte Macht besitzt, günstig zu stimmen.“ Damit ist das Thema eingegrenzt, das den Kern dieses Kapitel bildet: Wer regiert wen?

„Sobald der Staat die Planung des gesamten Wirtschaftslebens übernimmt, ist es unvermeidlich, dass die Frage, welche Stellung den einzelnen Individuen und Gruppen zukommt, zum Kernproblem der Politik wird. Die allein erstrebenswerte Macht besteht nun in einem Anteil an der Ausübung dieser obersten Gewalt.“ Diese bittere handlungslogische Konsequenz hat sogleich auch eine handfeste staatsorganisatorische Folge: „Der Gegensatz zwischen einem liberalen System und einer totalen Planwirtschaft findet eine treffende Illustration in der den Nationalsozialisten und den Sozialisten gemeinsamen Forderung nach dem Primat der Politik über die Wirtschaft.“ Die politische Werteskala präjudiziert mithin die materielle Güterverteilung. Kommt es zu Meinungsverschiedenheiten über die politischen Ideale, gerät das gesamte Machtgefüge ins Rutschen.

„Schwierigkeiten treten hervor, wenn eine sozialistische Politik in der Realität versucht wird. Dann wird es nämlich bald zu einzigen brennenden Frage, welches System von Idealen allen auferlegt werden soll, damit die gesamten Produktivkräfte eines Landes genau diesen dienstbar gemacht werden.“ Liest man diese Sätze aus der Perspektive des Jahres 2024, zeigt sich der geradezu prophetische Charakter der Überlegungen Hayeks. Denn aktuell werden, jedenfalls in Deutschland, die gesamten Produktivkräfte des Landes in einer ökologischen Transformation zur Verfolgung politischer Umweltideale umgeformt. Dass dabei jene Akteure auch zu materiellen Gewinnern werden, die sich mit dieser Werteskala einig zeigen, kann mithin nicht erstaunen.

Diejenigen, die an dieser Profitmaximierung durch politische Umverteilung noch nicht akut teilhaben, werden durch entsprechende Indoktrination für ihre künftige Rolle vorbereitet. Hayek formuliert es so: „Bei den Sozialisten ist es Tradition, die Lösung des Problems von der Erziehung zu erhoffen. Tatsächlich erkannten überall die Sozialisten, dass die Aufgabe, die sie sich gestellt hatten, die allgemeine Annahme einer gemeinsamen Weltanschauung erfordert. In diesem Bestreben schufen die Sozialisten als erste Instrumente zur geistigen Abrichtung, von denen dann die Nationalsozialisten und Faschisten so wirksam Gebrauch gemacht haben.“

Hayek analysierte auch, dass die ursprüngliche Beherrschung eines solchen Machtsystems allenfalls so lange gelingen kann, wie die Aufspaltung der Gesellschaft in übersichtliche Klassen erhalten bleibt. „Der Theorie und der Taktik des Sozialismus liegt überall der Gedanke einer Teilung der Gesellschaft in zwei Klassen miteinander widerstreitenden Interessen zugrunde, die Scheidung in Kapitalisten und Arbeiter.“ Diversifiziert sich diese Zweiheit indes im weiteren Meinungsstreit, wird die Lage schnell fragil und unübersichtlich. Denn das gesellschaftliche Steuerungsmittel in Gestalt der Subvention politisch gefälliger Gruppen „versagt den Dienst, wenn alle unterstützt werden sollen“. Insoweit sind rivalisierende Gruppen nur eine folgerichtige Konsequenz der planwirtschaftlichen Umverteilung. Das machtvoll gesteuerte Herrschaftssystem spaltet Gesellschaften und trennt Menschen voneinander, statt friedliche Kooperation und Koopetition zu ermöglichen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Sicherheit und Freiheit | Kapitel 9

Das Kapitel über „Sicher­­heit und Frei­­heit“ bringt – neben der Fort­­füh­­rung des kon­kreten Werk­­ge­­dan­­kens an sich – zwei Aspekte, die für die gesamte Re­zep­­tion der Arbeiten von Hayek von tra­gender Bedeu­­tung sind. Zum einen beschreibt Hayek hier seine Auf­­fas­sung zur Frage des staat­­lichen Ab­si­cherns benach­­tei­­li­gter Indi­­vi­­duen. Zum anderen skiz­ziert er die Pflichten­­po­si­­tion des Ein­­zel­nen, wenn es um die Ver­­tei­­di­­gung der Frei­­heit geht.

In dia­­me­­tra­lem Gegen­­satz zu dem land­­läu­­figen Vor­ur­­teil, Hayek argu­­men­­tie­re stets nur als kalt­­her­­ziger Markt­­ra­di­kaler, beschreibt er hier die Mög­­lich­­keit einer Gesell­­schaft, Ein­­zel­­nen in Krisen­­si­tu­a­tionen Hilfe ange­­dei­hen zu lassen: „Es ist kein Grund vor­­han­den, warum in einer Gesell­­schaft, die einen Wohl­stand wie die unsrige erreicht hat, nicht allen Menschen die erste Art von Sicher­heit ohne Gefahr für die allge­meine Frei­heit gewähr­leistet werden sollte.“ Weiter konkre­ti­siert er: „Es ist auch kein Grund vor­han­den, warum der Staat die Indi­vi­duen nicht in der Vor­sorge für jene gewöhn­lichen Wechsel­fälle des Lebens unter­stützen sollte, gegen die wegen ihrer Unge­wiss­heit nur wenige sich aus­reichend sichern können wie im Falle von Krank­heit und Unfall.“ Wesent­lich erscheint ihm aller­dings, eine kollek­tive Siche­rung auf unbe­herrsch­bare Risiken zu be­gren­zen: „In allen Fällen, in denen eine Gemein­schafts­aktion Schick­sals­schläge zu mindern ver­mag, die der Ein­zelne nicht abzu­wen­den im­stande ist, gegen deren Folgen aber er ebenso wenig Vor­sorge treffen kann, sollte zweifel­los eine solche Aktion unter­nommen werden.“ Das Existenz­mini­mum ist gesell­schaftlich sicher­zu­stellen: „Es steht außer Frage, dass es eines der Haupt­ziele der Politik sein muss, Sicher­heit gegen bittere Not zu gewähren.“

Eine kollek­tive Siche­rung kann Hayek sich durchaus auch zur Absiche­rung gegen konjunk­tu­relle Schwan­kungen vor­stel­len. In allen Fäl­len aber steht die Folge­frage über die konkrete Aus­ge­stal­tung und das Maß der Hilfe im Raum: „Das wirft natür­lich schwierige Fragen über die genaue Höhe des zu garan­tieren­den Stan­dards auf, insbe­son­dere die wichtige Frage, ob die­jeni­gen, die sich auf diese Weise von der Gesell­schaft erhal­ten las­sen, alle unbe­schränkt die gleichen Frei­hei­ten genie­ßen sollen wie die anderen.“

Das Rechts­em­pfin­den inner­halb einer Gesell­schaft, warnt er, kann Schaden erleiden, wenn die Umver­tei­lung über­mäßig aus­fällt: „Es ver­letzt zwei­fel­los unseren Gerech­tig­keits­sinn, wenn jemand ohne eigenes Ver­schul­den und trotz ange­streng­ter Arbeit und außer­ge­wöhn­licher Geschick­lich­keit eine große Ein­kommens­min­de­rung erfährt. Die Sicher­heit eines be­stimmten Ein­kom­mens kann jedoch nicht allen ge­währt werden, wenn noch freie Berufs­wahl ge­stattet sein soll. Die Unter­schie­de in der Ent­loh­nung würden dann nicht mehr einen ange­mes­senen Anreiz bedeuten, um einen Berufs­wechsel vor­zu­neh­men, der wiede­rum im Inte­resse der Gesell­schaft wünschens­wert wäre.“

Entscheidend ist in diesem Zusammen­hang, den Leis­tungs­anreiz für alle Betei­ligten auf­recht­zu­erhal­ten und ihn nicht durch Um­ver­tei­lung zum Still­stand zu brin­gen. Hier findet Hayek sehr deut­liche Worte. Er zitiert den im Jahre 1933 von den Natio­nal­sozia­listen wegen seiner poli­tischen Auf­fas­sun­gen aus seiner Professur ent­fern­ten späteren Vater der Bonner Sozialen Markt­wirt­schaft Wilhelm Röpke (1899–1966) mit dessen Diktum, dass die letzte Instanz in einem Wett­be­werbs­system der Gerichts­voll­zieher, in der kom­man­die­ren­den Plan­wirt­schaft hin­ge­gen der Henker ist. Will man eine Gesell­schaft nicht in eine Befehls­struk­tur um­wan­deln, in deren Mitte Un­ge­hor­sam straf­recht­lich verfolgt wird, muss die konkrete Ver­ant­wor­tung der frei han­deln­den Wirt­schafts­teil­neh­mer für ihr Tun bei ihnen selbst liegen. Dieses Junk­tim aus­zu­balan­cie­ren ist geradezu denk­not­wen­dig vor­ge­geben: „Ent­we­der hat das Indi­vi­du­um so­wohl die Ent­schei­dung und das Risiko, oder beides ist ihm abge­nom­men.“ Wer sich gegen das Risiko wendet, dass im Falle seines Schei­terns ein Gerichts­voll­zieher tätig wird, der ent­schei­det sich not­wen­diger­weise für das Ge­gen­teil. Und das ist die „Sicher­heit der Kaserne“.

Weit in die Zukunft der wohl­fahrts­staat­lichen Um­ver­tei­lungs­pro­zesse hinein sah Hayek bei­spiels­weise auch einen Stan­dard der heutigen Ärzte im öffent­lichen Gesund­heits­wesen voraus. Er formu­lierte allge­mein: „Garan­tiert man jeman­dem bestimmte Men­gen eines Kuchens von ver­än­der­licher Größe, so muss spiegel­bild­lich der unbe­stimmte Anteil, der dann jeweils nur für alle anderen übrig­bleibt, im Ver­hält­nis stär­keren Schwan­kungen unter­wor­fen sein als die wech­selnde Größe des Kuchens insge­samt.“ Die Empirie des deutschen Gesund­heits­wesens von heute bestätigt diese Analyse: Ärzte­gruppen, denen es im Gesund­heits­wesen gelingt, für ihre eigenen Dienst­leis­tungen unver­än­der­liche Ver­gü­tungs­sätze durch­zu­setzen, profi­tieren relativ mehr von dem Gesamt­sys­tem als solche Ärzte, deren Vergü­tung relativ schwan­kend von dem Gesamt­ho­no­rar ab­hängt, das für alle insge­samt zur Ver­tei­lung ver­füg­bar ist.

Und auch die Sank­tions­mecha­nis­men gegen Ärzte, die sich den Um­ver­tei­lungs­re­gu­la­rien der mono­po­lisier­ten Behörde ver­wei­gern, der sie ange­schlos­sen sind, erinnert fatal an das Zitat von Leo Trotzki (1879–1940), das Hayek dem Kapitel insge­samt voran­stellt: „In einem Land, in dem der einzige Arbeit­ge­ber der Staat ist, bedeutet Oppo­si­tion lang­samen Hunger­tod.“

Neben diesem Gedan­ken zu einer mög­lichen und gebo­tenen Um­ver­tei­lung, die Hayek mithin in ange­mes­senem Um­fang für prin­zipiell frei­heits­un­schäd­lich vertret­bar hält, domi­niert als zweite Kern­these des Kapitels sein Ver­ständ­nis über die Ethik der Freiheits­ver­tei­digung. Die Frei­heit des Indi­vi­du­ums steht im Gegen­satz zu seiner mate­riellen Sicher­heit. Wer sich alle Lei­stun­gen zu seinem Lebens­unter­halt nicht durch unsichere eigene kreative An­stren­gung, sondern durch garan­tierte behörd­liche Ver­waltungs­akte finan­zie­ren lässt, der ver­zichtet auch auf die Mög­lich­keit freier eigener Selbst­ver­wirk­lichung. Dafür bezahlt man einen Preis: „Wir müssen unter allen Um­stän­den wieder lernen, offen der Tat­sache ins Auge zu sehen, dass die Frei­heit nur um einen bestimmten Preis zu haben ist und dass wir als Indi­vi­duen bereit sein müssen, für die Wahr­ung unserer Frei­heit schwere materielle Opfer zu bringen.“

Nur durch diesen Ein­satz für die eigene Frei­heit und die Frei­heit aller ande­ren lässt sich letzt­lich auch ver­mei­den, dass eine Gesell­schaft über Sicher­heits­ver­sprechen infolge Be­quem­lich­keit in die be­schrie­bene Un­frei­heit einer Kaserne abrutscht. Denn hat sich eine feh­lende Balance mate­rieller Güter­ver­tei­lung in einer Gesell­schaft ein­mal ein­ge­schli­chen und ver­fes­tigt, dann ist schwierig, aus dieser Falle zu ent­kom­men: „Nie­mals hat es eine schlim­mere oder grau­samere Aus­beu­tung der einen Klasse durch die andere ge­geben als die der schwä­cheren und weniger glück­lichen Ange­hö­rigen eines Produk­tions­zwei­ges durch die, die fest im Sattel sitzen.“

Fas­zi­nie­rend schließ­lich ist die Ein­schät­zung schon des Jahres 1944, dass der Be­amte im Staats­appa­rat ein ten­den­ziell höheres ge­sell­schaft­liches An­sehen genieße als der Unter­neh­mer: „Die jüngere Gene­ration unserer Zeit ist in einer Welt aufge­wach­sen, in der in Schule und Presse der Unter­neh­mer­geist als schim­pflich und das Ver­dienen als un­mo­ralisch hinge­stellt worden sind, in der die Be­schäf­tigung von 100 Arbeitern als Aus­beu­tung gilt, aber die Kom­man­die­rung der gleichen Anzahl als ehren­voll.“ Und genau das bleibt nicht ohne Kon­se­quenz auf die Manieren, die sich in einer Gesell­schaft ent­wickeln.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Der Triumph der menschlichen Gemeinheit | Kapitel 10

In den 1930er Jahren herrschte unter den britischen Intellektuellen nicht nur das Gefühl, der „Kapitalismus“ habe mit der Weltwirtschaftskrise gezeigt, dass dieser notwendigerweise in ein gesellschaftliches Chaos münde. Blicke auf den spanischen wie italienischen Faschismus, auf den deutschen Nationalsozialismus und den sowjetischen Kommunismus machten auch klar, dass es nicht erstrebenswert sein konnte, diese Modelle zu kopieren. Der Diskurs tendierte also dahin, einen wohl geplanten Sozialismus eigener Art zu schaffen. Hätte es den Begriff des Prager Frühlings von 1968 schon gegeben, wäre man wohl bereit gewesen, das angestrebte Ziel als einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu beschreiben.

Namentlich an der von den sozialistischen Fabianern gegründeten und beherrschten London School of Economics, an der sich Hayek schon vor der Abfassung der „Road to Serfdom“ viele Jahre aufgehalten hatte, glaubten Gesellschaftsingenieure lange, es lasse sich notfalls auch ein unumschränkter Herrscher finden, der – mit der richtigen Geisteshaltung – für alle Gutes bewirken werde. Dieser Kontext erhellt die Sätze Hayeks: „Wir bekommen bereits heute zu hören, dass Totalitarismus ein machtvolles System zum Guten wie zum Bösen sei und dass es ausschließlich von den Diktatoren abhänge, zu welchem Zweck es gebraucht werde. Alles spricht [aber] dafür, dass die Dinge, die uns als die übelsten Seiten der heutigen totalitären Systeme in die Augen fallen, keine zufälligen Nebenprodukte sind, sondern Erscheinungen, die der Totalitarismus früher oder später unweigerlich hervorbringen muss. Wer das nicht sieht, hat noch immer nicht begriffen, welch tiefer Abgrund den Totalitarismus von einem liberalen Regime trennt.“

Es liege auf der Hand, dass Menschen, die massenweise in halbmilitärische Organisationen gezwungen werden, in denen sich ihr Privatleben auflöst, infolge dieser Sozialisation auch andere Moralanschauungen entwickeln. Die Hoffnung, es werde sich wie von Geisterhand in den Millionengesellschaften eine steuerungsfähige Majorität entwickeln, die dann ganz automatisch das allgemein Gute herbeiführe, müsse sich notwendig als trügerisch erweisen. Fehle es aber über eine gewisse Zeit an einer solchen Zufriedenstellungsmehrheit, werde die Frage im Raum stehen, wie eine solche wirkmächtige Gruppe konstituiert werden könne und wer derjenige sei, der sie realisiere.

An diesem Punkt beschreibt Hayek drei Funk­tions­me­cha­nis­men, die erwarten lassen, dass sich eher die schlech­testen und nicht die besten Cha­rakt­ere an die Spitze setzen werden: Erstens domi­niert absehbar jene Gruppe, die die niveau­loseste ist – denn sie ist die größte. Zweitens werden in diesen Gruppen jene bevorzugt, die nicht über eigene starke Über­zeu­gun­gen ver­fügen – denn sie lassen sich einem kon­fek­tio­nier­ten System am leichtesten an­passen. Und drittens wird das Moti­va­tions­schema innerhalb dieser Gruppe eines sein, das auf die Ab­gren­zung von einem emo­ti­onal stark ab­ge­lehn­ten Gegner ausgerichtet ist – denn es ist einfacher, Menschen von etwas Un­ge­woll­tem negativ zu distan­zie­ren, als sie für etwas Gewoll­tes positiv zu begei­stern.

An dieser Stelle stoße jede Art von Kollek­ti­vismus an eine eigen­tüm­liche syste­ma­tische Grenze. Die Herbei­füh­rung eines nötigen Ein­heits­wil­lens erfordere Voraus­set­zun­gen, die es in der Realität nicht gibt: „Wenn man an die Gemein­schaft der Ziele und Inte­res­sen unter den Menschen glaubt, so dürfte man ein größeres Maß von Gleich­för­mig­keit der Gedanken und An­schau­ungen vor­aus­setzen, als es in Wahr­heit unter ihnen existiert. Daher ist ein Welt­kollek­ti­vis­mus unvor­stell­bar, es sei denn in der Hand einer kleinen herr­schen­den Elite. Es würde gewiss nicht nur tech­ni­sche, son­dern vor allem auch mora­lische Pro­ble­me aufwerfen, denen jeder Sozialist aus dem Wege geht.“

Auch hier erweisen sich die Dar­le­gun­gen Hayeks aus der Sicht des Jahres 2024 wieder als durch­aus prophe­tisch. Denn die aktuellen Bestre­bun­gen in der Uno wie auch ins­be­son­dere in der WHO zeigen genau diese Kon­sti­tu­ie­rung einer solchen „kleinen herr­schen­den Elite“, die ihre kollek­ti­vis­tischen Ideen über den ganzen Globus ausweiten möchte. Der Dissens dieses kleinen Kreises mit den Über­zeu­gun­gen der übrigen Welt ist jedoch nicht aus­zu­räumen: „Einer der unlös­baren Wider­sprü­che der kollek­ti­vis­ti­schen Philo­so­phie besteht darin, dass der Kollek­ti­vis­mus, der sich doch auf die vom Indi­vi­du­alis­mus ent­wick­elte huma­nisti­sche Ethik stützt, in der Praxis nur innerhalb kleiner Gruppen möglich ist. Weil der Sozia­lis­mus in der Theorie zwar inter­na­tio­nalis­tisch ist, aber sich in Natio­na­lis­mus über­schlägt, sobald er in die Tat umge­setzt wird, ist ein ‚libe­raler Sozia­lismus‘, wie ihn sich die meisten west­lichen Länder vorstellen, reine Theorie, während die Praxis des Sozia­lis­mus über­all totali­tär ist.“

Das von Hayek hier skizzierte „Überschlagen“ aller kollek­ti­vis­tischen Theorie in Parti­kular­inte­res­sen findet aktuell eine neue Gestalt unter dem Namen einer „multi­po­laren Welt“. Die Idee, den gesamten Globus in ein Um­ver­tei­lungs­system zu trans­for­mie­ren, scheitert an den natio­na­len oder natio­nal­ver­bün­deten Staats­ein­hei­ten. Der Drang des Indivi­duums, sich mit einer Gruppe zu iden­ti­fizieren, ent­springe im Übrigen regel­mäßig einem indi­vi­du­el­len Unter­legen­heits­gefühl. Der Drang zur Gruppe wird daher am ehesten befrie­digt, wenn Gruppen­zu­ge­hörig­keit „eine gewisse Über­le­gen­heit gegenüber Gruppen­frem­den ver­leiht“.

Für einen ehe­maligen Studenten an der London School of Economics, die – wie be­schrie­ben – von dem Ehepaar Sidney und Beatrice Webb und George Bernhard Shaw mit den Fabianern ge­grün­det worden war, sind weitere Pas­sagen des Kapitels von bemerkens­werter Klar­heit. Hayek zitiert aus einem Bericht des fran­zö­sischen Histo­rikers Élie Halévy die Sätze „[Das Ehe­paar Webb] war im tief­sten Wesen anti­li­beral. Das Ehe­paar und Bernhard Shaw bildeten eine Gruppe für sich. Ich höre noch, wie Sidney Webb mir aus­ein­ander­setz­te, dass die Zukunft den zen­tral­ver­wal­teten Groß­sta­aten gehöre, die durch Büros regiert würden und in denen die Ordnung von Gend­ar­men auf­recht­er­halten würde.“ Und Hayek selbst formu­liert weiter: „Halévy zitiert an anderer Stelle George Bernhard Shaw, der behau­ptet, dass die Welt not­wen­diger­weise den großen und mäch­tigen Staa­ten gehört, denen sich die kleinen bei Strafe ihres Unter­gangs an­schließen müs­sen.“

Die Formu­lie­rung Élie Halévys, Sidney Webb habe von Staaten geträumt, die durch Büros regiert würden, erinnert – ganz abseits der Beschrei­bun­gen Hayeks – an einen Bericht Hans Magnus Enzensbergers in seinem Essay „Sanftes Monster Brüssel oder die Ent­mün­di­gung Europas“ aus dem Jahr 2011. Jean Monnet habe in den frühen Jahren der euro­pä­ischen Gemein­schaf­ten die Vision geäußert, ihm werde es ohne Weiteres möglich sein, dereinst ganz Europa mit nur einer Sekre­tärin und einem Telefon zu regieren. Mög­licher­weise ist die heute so radikal betrie­bene Digita­li­sierung allen Lebens also nur eine technisch fort­ge­schrit­tenere Variante der­ar­tiger Herrschafts­phanta­sien.

Über die Gefahren des Missbrauchs solcher Machtpotenziale schreibt Hayek weiter: „Während den großen Sozialphilosophen des Individualismus im 19. Jahrhundert Macht als solche immer als das schlechthin Böse erschienen ist, ist sie für den doktrinären Kollektivisten Selbstzweck. In der Marktwirtschaft gibt es niemanden, der auch nur einen Bruchteil der Macht innehätte, die eine sozialistische Planbehörde besitzen würde. Dezentralisierung der Macht muss notwendigerweise die absolute Gesamtsumme der Macht vermindern und die auf dem Wettbewerb beruhende Marktwirtschaft ist das einzige Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das darauf gerichtet ist, durch Dezentralisierung die Macht des Menschen über den Menschen auf das Mindestmaß herabzusetzen.“

Auch hierfür bietet die jüngere Geschichte demjenigen, der 80 Jahre nach Erscheinen des Werkes zurückblickt, verlässliches empirisches Anschauungsmaterial: Nur mithilfe staatlicher Machtinstrumentarien konnte es gelingen, während der „Pandemie“ einen abschließenden Kanon von Arzneien in den Markt zu bringen. Hätte echter Wettbewerb geherrscht, wären die gesehenen wirtschaftlichen Machtagglomerationen niemals so entstanden. Der Zweck der öffentlichen Gesundheit rechtfertigte den radikalen ordnungspolitischen Zwangseingriff in den Gesundheitsmarkt. Auch dies war von Hayek bereits in der Theorie beschrieben: „Der Grundsatz, dass der Zweck die Mittel heiligt, erscheint nach der individualistischen Ethik als die Negierung jeder Moral, aber in der kollektivistischen Ethik wird er notwendigerweise zur obersten Norm. Es gibt buchstäblich keine Handlung, zu der der konsequente Kollektivist nicht bereit sein muss, wenn sie dem ‚Wohle des Ganzen‘ dient, denn das ‚Wohl des Ganzen‘ ist für ihn das einzige Kriterium des Sollens.“

Machtstellungen, resümiert Hayek, haben wenig Anziehendes für Menschen mit moralischen Überzeugungen. Folgerichtig gibt es im Kollektivismus „die große Gelegenheit für die Rohlinge und Gewissenlosen“, Dinge zu tun, von denen sie wissen, dass sie verwerflich sind, die aber hier vollführt werden dürfen, weil sie „für ein höheres Ziel getan werden müssen“. Im Ergebnis „wird die Bereitschaft zum Bösen ein Weg zu Aufstieg und Macht“.

Mit dem Schlussabsatz des Kapitels leitet Hayek über zur Frage des folgenden Kapitels nach dem Ende der Wahrheit: „Das Problem der Auswahl der Führer hängt eng mit dem umfassenden Problem zusammen, wie sich eine Auswahl nach der Gesinnungstüchtigkeit oder besser gesagt danach vollzieht, wie rasch sich der Einzelne der ständig wechselnden Weltanschauung anpasst. Dies aber führt zu einem der wichtigsten moralischen Kennzeichen des Totalitarismus: seinem Verhältnis zu all jenen Tugenden, die wir unter dem Begriff der Wahrhaftigkeit zusammenfassen.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Das Ende der Wahrheit | Kapitel 11

Die analytische Brillanz, mit der Hayek den weiteren „Weg zur Knechtschaft“ aus der ihm erkennbaren Geschichte weiter vorhersah, ist gleichermaßen beeindruckend wie bedrückend. Wie das menschliche Individuum in eine anonyme gesellschaftliche Masse eingefügt und ihm seine einzigartige personale Würde genommen wird, war von Hayek bereits in dem Kapitel „Wer regiert wen?“ thematisiert worden. Mittels äußerer Verhaltensnormen wird dieser Vermassungsprozess ebenso gezielt wie subtil in die Seele jedes Einzelnen hineingetragen: „Die Sozialisten waren die Ersten, die darauf hielten, dass das Parteimitglied sich von anderen Menschen durch die Formen des Grußes und der Anrede unterscheiden sollte.“ Im Kapitel über den „Triumph über die menschliche Gemeinheit“ konkretisiert Hayek diesen Mechanismus: „Um einer einzelnen Gruppe überwältigende Macht zu verleihen, braucht man dasselbe Prinzip nur etwas weiter auszubauen und die Macht statt auf die Stimmen breiter Massen auf die uneingeschränkte Unterstützung einer kleineren, aber umso fester organisierten Gruppe zu gründen.“ Die hierzu notwendige Loyalität breiter Bevölkerungsschichten zum jeweiligen Führer erwächst schließlich aus einer gezielt gesteuerten Haltung dieser Massen, wie Hayek nun in dem Kapitel über das „Ende der Wahrheit“ erläutert.

„Wenn ein totalitäres System gut funktionieren soll, genügt es nicht, jeden Einzelnen nur zur Arbeit für dieselben Ziele zu zwingen. Es ist von ausschlaggebender Bedeutung, dass das Volk dahin gebracht wird, sich auch mit diesen Zielen zu identifizieren. Wenn in den totalitären Staaten die Unterdrückung im Allgemeinen dennoch viel schwächer empfunden wird, als sich das die meisten Menschen in liberalen Ländern vorstellen, dann deshalb, weil es den totalitären Regierungen in hohem Maße gelingt, das Denken der Menschen in ihrem Sinne zu beein­flussen.“

In seiner weiteren Beschreibung, wie eine solche Manipulation der Masse zu deren Gefügig­machung gelingen kann, erläutert Hayek: „Wenn alle Informationsquellen wirksam von einer einzigen Stelle kontrolliert werden, dann handelt es sich nicht mehr darum, die Menschen von diesem oder jenem zu überzeugen. Der geschickte Propagandist hat es dann vielmehr in der Hand, die Geister in jeder von ihm gewollten Richtung zu formen. Und selbst die Intelli­gen­testen und geistig Unabhängigsten können sich diesem Einfluss nicht ganz entziehen, wenn sie nur lange genug von allen anderen Informationsquellen abgeschnitten sind.“

Aus der Sicht des Jahres 2024 mit allen heute diskutierten Einschränkungen und Kon­troll­mög­lich­keiten öffentlicher Kommunikation erweisen sich auch diese Beobachtungen Hayeks als hellsichtig. Denn es will den Anschein haben, als keime der Geist überwunden geglaubter staatlicher Zensur erneut auf, um einen sonst heute technisch weitläufig und hindernisfrei möglichen herrschaftsfreien Diskurs innerhalb der Gesellschaft zu kanalisieren. Ob es gelingen wird, diese Kanalisation im Sinne der Definition Hayeks „totalitär“ auszugestalten, bleibt abzuwarten. Sollte eine solche Dystopie real werden, wären die weiteren Überlegungen Hayeks beachtenswert: „Die moralischen Folgen der totalitären Propaganda sind tieferer Art. Sie vernichten jegliche Moral, da sie eine ihrer Grundlagen unterminieren, nämlich den Sinn für die Wahrheit und die Achtung vor ihr. Nach der Natur ihrer Aufgabe kann totalitäre Propaganda sich nämlich nicht auf Wertvorstellungen beschränken, sondern sie muss auch auf faktische Fragen ausgedehnt werden; denn denen gegenüber verhält sich der menschliche Verstand anders.“

Sobald der Staat die Planung des gesamten Wirtschaftslebens erst einmal übernommen hat, weist er nicht nur – wie bereits im Kapitel „Wer regiert wen?“ beschrieben – jedem Bürger eine konkrete Stellung und eine konkrete Aufgabe mit entsprechend behördlich zugeteilten Beloh­nungen zu. Die zentrale Planungsbehörde entscheidet auch über das angezielte Gesamt­ergebnis aller kollektiv erwirtschaften Arbeitsfrüchte insgesamt. Indem sie sich dabei aber für einen konkreten Weg entscheiden muss, schließt sie denknotwendig alle anderen ursprünglich ebenfalls möglichen Handlungsziele als Optionen aus.

Um nun aber genau ihr eigenes konkretes Tun als das alleine folgerichtige und legitim akzep­table erscheinen zu lassen, muss sie es entsprechend als plausibel und überzeugend pro­pa­gieren. Dies betrifft sowohl die Werturteile, auf denen ihre Entscheidungen beruhen, als auch die tatsächlichen Zusammenhänge, innerhalb derer sie erklärt, sich bewegen zu müssen: „Während die Planwirtschaftsbehörde einerseits ständig Werturteile fällen muss, für die keine bestimmten ethischen Normen bestehen, muss sie andererseits ihre Entscheidungen vor dem Volk rechtfertigen – oder die Bürger mindestens irgendwie glauben machen, dass ihre Ent­schei­dungen richtig seien. Die Notwendigkeit, seinen Neigungen und Abneigungen, von denen der Planwirtschaftler sich in Ermangelung anderer Anhaltspunkte in seinen Entscheidungen leiten lassen muss, auch eine objektive Begründung zu geben und die weitere Notwendigkeit, diese seine Gründe in eine Form zu kleiden, in der sie möglichst vielen Menschen plausibel sind, werden ihn also dazu zwingen, entsprechende Theorien aufzustellen – das heißt Behaup­tungen über die Zusammenhänge zwischen Tatsachen, die dann ihrerseits inte­grie­render Bestandteil der nun herrschenden Weltanschauung werden. Dieser Vorgang der Schaf­fung eines ‚Mythos‘, der die Politik rechtfertigen soll, braucht nicht einmal bewusst zu sein. Die Notwendigkeit solcher offiziellen Lehren als eines Mittels, um das Streben der Bevölkerung zu lenken und zusammenzufassen, war von verschiedenen Theoretikern des totalitären Systems bereits klar vorausgesehen worden. Platos ‚edle Lügen‘ dienen dem gleichen Zweck wie die Rassenlehre der Nationalsozialisten. Sie alle beruhen notwendigerweise auf bestimmten An­sichten über die Tatsachen, die dann zu wissenschaftlichen Theorien ausgebaut werden, um eine vorgefasste Meinung zu rechtfertigen.“

Es ist hier nicht die Stelle, eine Kasuistik aller derjenigen Tatsachenbehauptungen nieder­zu­schreiben, die heute – 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Werkes – zur Grundlage veröffentlichter Meinungen und politisch liebsamer Verhaltensweisen geworden sind. Auffällig allerdings ist durchaus, dass die in den vergangenen Jahrzehnten besonders vehement voran­getragenen staatlichen Programme regelhaft eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Sie zielten auf Themen, die in einem öffentlichen, auf demokratische Mehrheiten angewiesenen Diskurs gleichsam strukturell negationsresistent waren. Konkret: Wer könnte Einwendungen gegen die Bewahrung der Natur, gegen den Schutz der Gesundheit oder gegen die Bekämpfung des Terrors erheben? Die Verkürzung aller eigentlich feiner argumentativer Differenzierung verlangender Diskurse auf grobkörnige Debatten mit wenig ausgefeilten Termini wird begleitet von einer konsequenten Aushöhlung herkömmlich etablierter Begriffsinhalte: „Das Volk wird dahin gebracht, seine Anhänglichkeit an die alten Götter auf die neuen zu übertragen. Die erfolgreichste Technik zu diesem Zweck besteht darin, die alten Worte beizubehalten, aber ihren Sinn zu ändern. Wenige Merkmale sind so charakteristisch für die ganze geistige Atmos­phäre wie die völlige Verdrehung der Sprache und der Bedeutungswandel der Wörter. Der Haupt­leid­tragende in dieser Beziehung ist natürlich das Wort ‚Freiheit‘. Freiheit ist hier nicht mehr die Freiheit der Glieder einer Gesellschaft, sondern nur die unbeschränkte Freiheit des Planers. Hier erreicht die Konfusion von Freiheit und Macht ihren Höhepunkt.“ Nach und nach werde so auf dem Weg in die Knechtschaft die ganze Sprache semantisch geplündert: „Wir haben schon gesehen, wie dasselbe mit den Wörtern Gerechtigkeit, Gesetz, Recht und Gleichheit geschieht.“

In seinem Werk „Die Verfassung der Freiheit“, die Hayek 16 Jahre nach „The Road to Serfdom“ veröffentlichte, entwickelte er die hier skizzierte Darstellung über den Verfall des Rechtes detaillierter fort. Dort formulierte er: „Die beste Schilderung dieser Entwicklungen verdanken wir einem nicht-kommunistischen russischen Gelehrten [Boris Mirkin-Getzewitsch, 1892–1955], der bemerkte, dass das, was das Sowjetsystem von sämtlichen übrigen despotischen Staatsformen der Gegenwart und Vergangenheit unterscheidet, ist, dass es einen Versuch darstellt, den Staat auf Grundsätzen zu begründen, die denen eines Rechts­staates ent­ge­gen­gesetzt sind.‘ Oder, wie es ein kommunistischer Theoretiker ausdrückt: ‚Alles, was nicht speziell erlaubt worden ist, ist verboten.‘ Im Jahre 1927 erklärte der Präsident des sowjetischen Obersten Gerichtshofes in einem offiziellen Handbuch des Privatrechts: ‚Kommunismus bedeu­tet nicht den Sieg des sozialistischen Rechts, sondern den Sieg des Sozialismus über jedes Recht, da das Recht überhaupt verschwinden wird.‘ Die Gründe für dieses Stadium der Ent­wick­lung wurden am besten von dem Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis [1891–1937] erklärt: ‚Da in einer sozialistischen Gemeinschaft kein Raum für autonome private Rechtsbeziehungen ist, sondern nur für Regelung im Interesse der Gemeinschaft, ist alles Recht in Verwaltung über­ge­führt und alle festen Regeln in Ermessen und Nützlichkeitserwägungen.‘“

Dass in solchen Kontexten Einwendungen und Gegenargumente auf dem Weg zum richtigen Glück aller nur stören, liegt auf der Hand. 1944 formuliert Hayek hierzu: „Es ist nicht schwer, der großen Masse das selbständige Denken abzugewöhnen. Aber auch die Minderheit, die sich eine Neigung für Kritik bewahrt, muss zum Schweigen gebracht werden. Wie wir schon gesehen haben, darf der staatliche Zwang nicht darauf beschränkt werden, nur den Moralkodex aufzu­zwingen, der dem Gesamtplan der Gesellschaft zugrunde liegt. Der Plan muss darüber hinaus auch in allen seinen Teilen als unantastbar und als über jede Kritik erhaben erklärt werden.“

Es wäre wohl anzunehmen, dass ein Staat, der diesen Beschreibungen Hayeks entspräche, dazu aufrufen würde, nur und ausschließlich den offiziellen Verlautbarungen Glauben zu schenken und sich keinesfalls auf inoffizielle Quellen zu verlassen. Auch das Propagieren einer nur einzigen verlässlichen wissenschaftlichen Theorie, der zu folgen sei, dürfte in einem solchen Kontext erkennbar werden.

Darstellungen dieser Art können allerdings nicht auf nur einem einzigen Kommu­ni­kations­kanal verbreitet werden. Sie brauchen, um wirkmächtig zu werden, eine breitere Plattform: „Tatsachen und Theorien müssen daher ebenso zum Gegenstand der amtlichen Doktrin werden wie die Wertvorstellungen. Der ganze Bildungsapparat, Schulen, Presse, Radio und Kino, sie alle werden ausschließlich zur Propagierung derjenigen Ansichten verwandt werden, die – egal, ob wahr oder falsch – den Glauben an die Richtigkeit der von der Regierung getroffenen Entscheidungen stärken. Jede Nachricht, die Zweifel oder Zaudern verursachen könnte, wird unterdrückt werden. Und ob eine bestimmte Information veröffentlicht oder zurückgehalten werden soll, hängt einzig und allein davon ab, welches ihre wahrscheinliche Wirkung auf die Treue zum Regime sein wird. Alles, was Zweifel an der Weisheit der Regierung oder Unzu­frie­denheit erregen könnte, wird dem Volk dann vorenthalten.“ Bei alledem verliere auch das Wort „Wahrheit“ zwangsläufig seine hergebrachte Bedeutung. Wahrheit lasse sich nicht mehr finden, sondern: „Die Wahrheit wird jetzt zu etwas autoritativ Vorgeschriebenen.“

Hayek schließt sein Kapitel über „Das Ende der Wahrheit“ mit grundlegenden Betrachtungen über das Verhältnis von Intellektuellen zu Freiheit und Meinungsunterschieden: „Am meisten muss uns vielleicht die Tatsache alarmieren, dass die Verachtung für die geistige Freiheit nicht erst auftritt, nachdem ein totalitäres System errichtet worden ist. Wahrscheinlich stimmt nämlich, dass Menschen meist nicht fähig sind, selbständig zu denken, und also in der Regel vorgekaute Meinungen schlucken. In jeder Gesellschaft dürfte die Gedankenfreiheit daher nur für eine kleine Minderheit von Bedeutung sein. Das heißt allerdings nicht, dass irgendeiner dazu berufen ist oder die Macht haben sollte, diejenigen auszuwählen, denen die Gedan­ken­freiheit vorbehalten bleiben soll. Denn unter keinen Umständen kann irgendeine Gruppe sich deshalb anmaßen, das Denken und den Glauben der Menschen bestimmen zu wollen.“

Zum Kern einer freien Gesellschaft gehöre vielmehr, Zweifel zuzulassen und neue Ideen in den Umlauf setzen zu können, da sich gerade dieser soziale Prozess als die Grundlage des weiteren Wachsens von Vernunftwissen darstelle. Obgleich es anstrengend ist, muss man solchen Widerstreit im Denken und Glauben des öffentlichen Diskurses aushalten, denn: „Der Indi­vi­dua­lismus ist eine Haltung der Demut angesichts dieses sozialen Prozesses und eine Haltung der Duldsamkeit gegenüber anderen Meinungen. Er ist also das genaue Gegenteil jener intel­lekt­uellen Hybris, aus der das Verlangen nach einer umfassenden Lenkung des gesamten sozialen Prozesses entspringt.“

Nach diesen eher psychologischen Betrachtungen wendet sich Hayek im nun folgenden Kapitel der sozialistischen Wurzel des Nationalsozialismus zu.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Die sozialistische Wurzel des Nationalsozialismus | Kapitel 12

Die vielleicht giftigste Kommunikationsstörung im Diskurs zwischen Liberalen und Sozialisten hat ihre Ursache in einer hartnäckigen argumentativen Überkreuzung: Sozialisten streben nach dem Ziel einer Verbesserung der Lebensumstände aller und glauben, dies mit dem Mittel einer zentralisierten Organisationsoptimierung erreichen zu können. Liberale hingegen sind überzeugt, dass eine solche Organisation in Anbetracht der hyperkomplexen Realität unserer Welt schlechterdings nicht – oder allenfalls um den inakzeptablen Preis eines Verlustes aller persönlichen Lebensgestaltung – erreicht werden kann. Den damit von liberaler Seite erhobenen Einwand gegen die zumutbare Funktionsfähigkeit des sozialistischen Mittels missdeutet die Gegenseite als amoralischen Widerstand gegen das angestrebte edle Ziel. Die politische Interaktion aus diesem Dilemma zu befreien, erweist sich wegen der erheblichen Emotionalität des Themas konsequent als schwierig. Denn den einen ist das verfolgte gesamtgesellschaftliche Ziel überragend bedeutsam und den anderen der Schutz des Individuums gegen die Mittel der Zielerreichung. Das damit systematisch grob umrissene Unverständnis zwischen beiden Weltsichten hat – wie Hayek historisch-analytisch erläutert – weitreichende machtpolitische Konsequenzen.

Dies vorausgeschickt, muss die aus der Kapitelüberschrift sprechende These vom Sozialismus als der Ursache des Nationalsozialismus auch heute sicher manchem überzeugten Sozialisten a prima vista als ebenso vorwurfsvoller wie haltloser Affront erscheinen. Denn aus aktueller Sicht – achtzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches – wähnen sich Sozialisten in aller Regel noch immer als progressive „Linke“, deren Weltsicht der jedes „Rechten“ (wen immer sie zur eigenen Selbstvergewisserung unter diesen Begriff fassen) gerade exakt entge­gen­ge­setzt sei. Doch Hayek erläutert die beklemmend abweichende Lage überzeugend: „Es wird allgemein der Fehler begangen, den Nationalsozialismus als eine bloße Auflehnung gegen die Vernunft anzusehen. Träfe dies zu, so wäre die Bewegung viel weniger gefährlich, als sie es tatsächlich ist. Aber nichts könnte falscher und irreführender sein. Die nationalsozialistischen Lehren stellen den Höhepunkt einer langen geistigen Entwicklung dar. Die Kraft, die diese Gedanken zur Macht brachte, kam aus dem sozialistischen Lager. Es war der Zusammenschluss der antikapitalistischen Kräfte der Rechten und der Linken und die Verschmelzung des radikalen mit dem konservativen Sozialismus, die aus Deutschland alles, was liberal war, vertrieben.“

Im Wesentlichen sind es in der anschließenden Darstellung Hayeks vier Köpfe, an deren Beispiel er die fatale Entwicklung zur Eliminierung des Individualismus bis hin in den totalitären deutschen Nationalsozialismus nachzeichnet: Werner Sombart, Johann Plenge, Paul Lensch und Oswald Spengler.

Werner Sombart (1863–1941) war es, der den Krieg zwischen Deutschland und England „als den unvermeidlichen Konflikt zwischen der händlerischen Zivilisation Englands und der heroischen Kultur Deutschlands“ beschwor. Für Sombart war die Vorstellung untragbar, der Einzelne könne in einer Gesellschaft danach streben, sein Glück zu finden. Die einzig zutreffende Rolle des Menschen sei im Gegenteil die, im Staatsganzen seine Erfüllung zu finden: „Der Staat ist [für Sombart] eine Volksgemeinschaft, in der der Einzelne keine Rechte, sondern nur Pflichten hat.“ Während der durch westliche Ideale geprägte Bürger sich als Individuum sehe, das mit anderen gleichberechtigten Menschen in freiwillige Austausch­ver­hältnisse zur wechselseitigen Hilfe bei der Überwindung von Knappheiten trete, suche die kollektivistische Seele des Deutschen ihre Befriedigung nicht in einer persönlichen Kom­fort­steigerung, sondern in der – notfalls kriegerischen – „Vollendung der heldischen Welt­anschauung“. Den „Kundenfang“ umtriebiger „Krämerseelen“ hielt Sombart jedenfalls für unchristlich. Es fällt nicht schwer, die Kontinuität derartigen Denkens in Sätzen wie dem seit 2020 oft zitierten „You will own nothing – and you will be happy“ wiederzuerkennen. Die individuelle Sorge um die eigene Lebensorganisation zur Bequemlichkeit vertrauensvoll fremden Kräften zu übertragen, ist augenscheinlich eine anthropologische Konstante der besonderen Art.

Auch Johann Plenge (1874–1963) – der Doktorvater des späteren SPD-Parteivorsitzenden Kurt Schumacher – war ein „ebenso großer Marxkenner wie Sombart. In der Organisation erblickte er, wie alle Sozialisten, das Wesen des Sozialismus.“ Den „wirtschaftlichen Weltkrieg“ hielt Plenge dabei für die dritte große Epoche der Neuzeit: „Es kommt ihm gleich große Bedeutung zu wie der Reformation und der bürgerlichen Freiheitsrevolution.“ Entwicklungsgeschichtlich konnte Plenge daher die durch den Ersten Weltkrieg ab 1914 ausgelöste staatlich konzertierte Transformation aller Wirtschaftstätigkeiten in eine monistische Kriegswirtschaft nur begrü­ßen. Alles gesellschaftlich Produktive wurde jetzt einer vereinheitlichten Machtstruktur untergeordnet: „Staat und Volkswirtschaft sind zu einer neuen Einheit zusammen­ge­schlos­sen“, resümierte er 1916. In der Konsequenz dieser Weltsicht konnte der Einzelne auch nicht mehr frei sein in seinen Entscheidungen, wo und was er arbeiten wolle – in Plenges Worten: „Es wird höchste Zeit, sich darüber klarzuwerden, dass der Sozialismus Machtpolitik sein muss, da er die Organisation sein muss.“ „Diese Ideale“, notiert Hayek, „waren besonders populär in gewissen Kreisen deutscher Wissenschaftler und Ingenieure, die nach der von einer Zentrale aus geplanten Organisation des gesamten Lebens verlangten.“

Es braucht erkennbar keine besonders feinen Ohren, um aus diesen Sätzen schon Hitlers nahendes Diktum herauszuhören: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Aber auch die in den Worten Plenges aufscheinende Melange aus Macht und Organisation macht nachdenklich: Was, wenn eine Gesellschaft erst einmal voll „digitalisiert“ ist, jeder Schritt und jede Handlung virtuell an eine Steuerungszentrale gemeldet, von ihr mit politisch vorgegebenen Werten abgeglichen und zu Kontrollbefehlen umgewandelt werden kann? Was, wenn die Menschheit von Maschinenbauern wie eine Industrieanlage in Module getrennt und nach mathematischen Parametern gesteuert wird?

Der sozialdemokratische Hochschullehrer Paul Lensch (1873–1926) beschrieb den Unterschied zwischen dem sozialistischen Freiheitsideal und der englischen Weltanschauung aus den Konsequenzen der Bismarck’schen Schutzzolleinführung des Jahres 1879. Die daraus resultierende Konzentration und Kartellierung der gesamten deutschen Industrie habe sie auf eine völlig neue Entwicklungsstufe gehoben, die dem schwachen Staat des englischen Individualismus für immer überlegen sein werde: „So gesehen glich der Krieg der Entente gegen Deutschland dem Versuch des vorkapitalistischen Kleinbürgertums, den Niedergang des eigenen Standes zu verhindern.“ Und weiter zitiert Hayek den marxistischen National­öko­nomen: „Zu diesen unbewusst mit englischen Maßstäben arbeitenden Schichten gehört nun das gesamte gebildete deutsche Bürgertum. Seine politischen Begriffe von ‚Freiheit‘ und ‚Bürgerrecht‘ entstammen durchweg der individualistischen Weltauffassung. Worauf es jetzt ankommt, ist, sich von diesen überkommenen politischen Denkformen freizumachen und einer neuen Auffassung von Staat und Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen.“

Hayek fasst zusammen: „Plenge und Lensch haben nacheinander den unmittelbaren Vorläufern des Nationalsozialismus, vor allem Oswald Spenger (1880–1936), die Leitgedanken geliefert. Einige Beispiele für seine Argumentation werden genügen: ‚Altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem Hasse von Brüdern hassen, sind ein und dasselbe.‘ ‚Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Jeder erhält seinen Platz. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus. Verächtlich ist auf deutschem Boden alleine der Liberalismus.‘ ‚Das englische Volk ist nach dem Unterschied von reich und arm, das preußische nach dem von Befehl und Gehorsam aufgebaut.‘ Von hier aus war es für [Artur] Moeller van den Bruck nur noch ein Schritt bis zur Verkündung, dass der Weltkrieg ein Krieg zwischen Liberalismus und Sozialismus sei. Nach Moeller van den Bruck sollte das ‚Dritte Reich‘ den Deutschen einen Sozialismus geben, der ihrer Natur angepasst und von den liberalen Ideen des Westens nicht verunreinigt war.“

In der völligen Gleichschaltung aller ökonomischen Aktivitäten und ihrer Verschmelzung mit staatlichem Handeln unter politischen Befehlen vermochten die Nationalsozialisten zuletzt das Individuum samt seiner personalen Menschenwürde zu einer gänzlich irrelevanten Größe einzuschrumpfen. Der sozialistische Organisationsanspruch war mit dem preußischen Ideal des Gehorsams zu einer nationalen Einheit verwoben worden, der ein einzelner Mensch nicht mehr entkommen konnte: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ stand nun sogar auf Münzen geprägt.

Welche weitreichenden Konsequenzen just diese Gedanken (den aktuell Handelnden sicher meist unerkannt) bis weit in die Zukunft der arbeitsgerichtlichen Wirklichkeit haben, beschrieb der deutsche Rechtslehrer Bernd Rüthers 1998 sehr eindrücklich in einem Beitrag für die „Neue Juristische Wochenschrift“: Die im deutschen Arbeitsrecht bis in die Gegenwart gesetzesfremd übersteigerte Bestandkraft von Arbeitsverträgen durch Erschwerung ihrer Kündbarkeit lässt sich – wie Rüthers quellenkundlich im Detail nachzeichnet – normengenetisch kausal auf das im Nationalsozialismus wurzelnde Verständnis des Arbeitsverhältnisses als „überindividuelles, auf Gesamtinteressen ausgerichtetes Gesellschaftsverhältnis“ zurückführen. Statt eine Kündigung von Rechts wegen auch im Arbeitsrecht überall dort zu respektieren, wo den Beteiligten die weitere Zusammenarbeit unzumutbar sei, werde aber gefragt, ob die Wiederherstellung verlorener Loyalität nicht doch irgendwie wieder zu erwarten sei. Der dahingehende Vorschlag des einflussreichen Bonner Arbeitsrechtlers Wilhelm Herschel aus dem Jahre 1958 wirkte – Rüthers rechtlicher Analyse nach – noch 1998 fort, ging jedoch rechtspublizistisch im Kern auf eine Arbeit des NS-Rechtserneuerers Wolfgang Siebert zurück, der im Jahre 1935 geschrieben hatte: „Vom Gemeinschaftsdenken aus ist das Arbeitsverhältnis ein Gemeinschaftsverhältnis, ein personenrechtlicher Tatbestand eigener Art.“ Deswegen solle ein Arbeitsvertrag in der sozialistischen Volksordnung prinzipiell ebenso unauflöslich sein wie die gleichermaßen personenrechtliche Ehe.

Inwieweit die gesellschaftspsychologische Affinität zum Kollektiv hierzulande (auch eine Generation nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit seinen Massenaufmärschen) zu Beginn des Jahres 2024 wieder private und öffentliche Arbeitgeber motiviert haben mag, ihre Beschäftigten zur Teilnahme an bestimmten politischen Demonstrationen aufzurufen, wird man kaum kausal beschreiben können. Die Versuchung, über die arbeitsrechtliche Verbindung hinaus auch weltanschaulich auf Mitarbeiter richtungsweisend einwirken zu wollen, ist jedoch aktuell wieder an vielen Stellen auffällig. Und sie passt zu dem in Deutschland über Jahrzehnte hinweg historisch verdichteten Antiindividualismus, der sich nicht nur im Allgemeinen von den „englischen“, sondern namentlich in der Gesetzgebung auch von der Axiomatik des römisch-rechtlichen Individualismus absondern wollte. So sahen die Schöpfer der Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896 beispielsweise davon ab, im dogmatischen Dissens zwischen Otto von Gierke und Friedrich Carl von Savigny über die deutschrechtlich reale oder römisch-rechtlich nur fiktive Existenz einer juristischen Person allzu deutlich Stellung zu beziehen, wie die zurückhaltende Formulierung des 26. Paragraphen dieses Gesetzes bis heute belegt. Auf dem Tiefpunkt der nationalsozialistischen Menschenverachtung sollte dem Einzelnen dann sogar strafprozessual verwehrt bleiben, sich auf die schützende Geltung von rechtsklaren Regeln gegen staatliche Übermacht berufen zu dürfen: An die Stelle der Rechtssicherheit des römischen „Keine Strafe ohne Gesetz“ trat dort das fatale Diktum „Kein Verbrechen ohne Sühne“.

Der Geringschätzung aller individuellen Lebensgestaltung nach innen entsprach die Überheblichkeit des staatlichen Ganzen nach außen. An diesem Wesen, glaubte man schon vor dem Ausbruch des Nationalsozialismus, solle die ganze übrige – von den befehlsgebenden deutschen Organisatoren für unzureichend und rückständig gehaltene – Welt genesen. Jeden Widerstand galt es also in dieser Weltsicht gewaltsam zu brechen. Deswegen musste das Ganze auch total durchorganisiert sein. Genau diesem Totalitären widmet Hayek daher sein nächstes Kapitel.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Die Totalitären mitten unter uns | Kapitel 13

Auf den ersten Blick könnte man das dreizehnte Kapitel der „Road to Serfdom“ als eine Auseinandersetzung mit Zeitgenossen des Jahres 1944 lesen, die ihre Bedeutung aus heutiger Sicht durch bloßen Zeitablauf verloren hat. Doch ein genauerer Blick auf die seinerzeitige Kritik Hayeks an den Arbeiten von John Maynard Keynes (1883–1946), Edward Hallett Carr (1892–1982) und Conrad Hal Waddington (1905–1975) macht deutlich: Hier ging und hier geht es um mehr als nur um die intellektuelle Widerlegung der Darstellungen eines Ökonomen, eines Historikers oder eines Biologen. Die Warnung vor den „Totalitären mitten unter uns“ ist ein Weckruf, dessen Bedeutung auch nach achtzig Jahren nichts an seiner Aktualität und Relevanz verloren hat. Ein Abgleich der damaligen analytischen Bestandsaufnahme mit der – aus heutiger Sicht historisch manifest gewordenen – Empirie macht dies nur allzu deutlich.

Hayek beginnt mit seiner zeitgenössischen Beobachtung, man wähne sich im England der 1940er Jahre ohne Grund vor genau jenen totalitären Strukturen sicher, die Deutschland zu dieser Zeit so fatal ergriffen hatten: „Wenn wir das nationalsozialistische Deutschland betrachten, so scheint uns ein so gewaltiger Abgrund zu trennen, dass nichts, was dort geschieht, zu irgendeiner möglichen Entwicklung in England in Beziehung gesetzt werden kann. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass vor fünfzehn Jahren nicht nur neun von zehn Deutschen selber, sondern auch die feindlich eingestellten Beobachter es für phantastisch gehalten haben würden, dass so etwas einmal in Deutschland passieren könnte.“

Doch im Abgleich der vormaligen Ausgangslage in Deutschland mit seiner konkreten Situation in England sah Hayek bereits bedenkenswerte Parallelen: „Die zunehmende Verherrlichung des Staates, die Bewunderung der Macht und der Größe um ihrer selbst willen, die Begeisterung für die ‚Organisation‘ von allem und jedem (heute Planung genannt) und jene ‚Unfähigkeit, irgendetwas der bloßen Kraft organischen Wachstums zu überlassen‘, fallen heute in England ebenso sehr in die Augen wie damals in Deutschland.“

Um seinen Lesern „einen angemessenen Begriff von dem erschütternden Eindruck zu geben, den man bei der Lektüre einiger englischer Werke“ gewinnen müsse, blickt Hayek zunächst auf Texte von Keynes und Carr. Keynes setzte sich beispielsweise im Jahr 1915 mit einem deutschen Autor auseinander, der beschrieb, wie „das Wirtschaftsleben auch [über das Ende des Krieges hinaus] im Frieden mobilisiert bleiben müsse. Mit dem Individualismus müsse völlig Schluss gemacht werden. Ein System von Regulierungen sollte geschaffen werden, dessen Ziel nicht die Steigerung des Glücks des Individuums sei, sondern die Stärkung der organisierten Staats­einheit zwecks Erreichung der höchsten Leistungsfähigkeit, die dem Individuum nur indirekt zugutekomme. Ausländische Kapitalanlagen, Auswanderung und jene Art der Industriepolitik, die in der jüngsten Vergangenheit die ganze Welt als einen Markt betrachtete, sind zu gefährliche Dinge. Die alte Wirtschaftsordnung, die heute stirbt, beruht auf dem Profit; das neue Deutschland wird jenem System des Kapitalismus ein Ende bereiten.“

Hayek zitiert diese Sätze aus einem Werk Keynes’ über die Kriegswirtschaft in Deutschland mit dem ergänzenden Hinweis, dass in dem Werk keine Stelle zu finden sei, „die nicht ihr Gegenstück in einem großen Teil der englischen Literatur der Gegenwart hätte“. Und er zieht daraus den Schluss: „Wie damals in Deutschland, so stammen auch in England die meisten Werke, die dem Totalitarismus den Weg bereiten, aus der Feder aufrichtiger Idealisten.“

Als weiteres Beispiel für eine allzu kritiklose Übernahme des destruktiven kollektivistischen Denkens führt Hayek anschließend Edward Hallett Carr an. Carr habe sich „offen als Anhänger der ‚historischen Schule‘ der Realisten bekannt, die in Deutschland zu Hause war und deren Entwicklung ‚an den großen Namen Hegel und Marx verfolgt‘ werden könne. [Dieser Schule zufolge müssten] die alten Moralanschauungen mit ihren ‚abstrakten allgemeinen Grundsätzen‘ verschwinden, weil ‚der Empiriker den konkreten Teil nach seinen Besonderheiten behandelt‘. Mit anderen Worten, nur die Zweckmäßigkeit zählt, und es wird uns sogar versichert, dass ‚der Grundsatz pacta sunt servanda kein moralisches Prinzip‘ sei. Wenn Carr behauptet, dass ‚wir heute in der den Denkern des 19. Jahrhunderts geläufigen Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat keinen rechten Sinn mehr entdecken‘,“ dann stellt Hayek dem zwei Fragen entgegen: „Ist er sich darüber klar, dass dies genau die Lehre Carl Schmitt ist und dass sie im Kern der Definition des Totalitarismus entspricht?“ Und: „Ist er sich ferner darüber klar, dass die Anschauung, nach der ‚das heute noch weit verbreitete Vorurteil gegenüber dem Wort Propaganda weitgehend dem Vorurteil gegen die Lenkung von Industrie und Handel entspricht‘, in Wahrheit eine Rechtfertigung für die nationalsozialistische Gleichschaltung ist?“

Der Historiker Carr ist in seinen Werken – zum Entsetzen Hayeks – sogar der Auffassung, Sowjet-Russland und Deutschland hätten den Wettstreit gegen freiheitliche Wirtschaftsordnungen gerade deswegen gewonnen, weil sie bewusst in die Richtung einer Schaffung größerer Einheiten mit zentralisierter Planung und Lenkung gedrängt hatten. Hayek notiert hierzu: „Die Entwicklung wird mit der ganzen Schicksalsgläubigkeit aller Pseudohistoriker seit Hegel und Marx als zwangsläufig hingestellt: ‚Wir wissen, in welche Richtung die Welt sich bewegt, und dem müssen wir uns beugen oder untergehen‘. Carr hat für alle Ideen der Nationalökonomen eine ebenso große Verachtung wie alle deutschen Schriftsteller, die wir im vorigen Kapitel angeführt hatten. Nach alledem nimmt es kaum mehr Wunder, wenn Carr frohlockt über den ‚Sinn und Zweck‘ des Krieges, den er als ‚das stärkste Mittel der sozialen Integration‘ bezeichnet.“

Im Anschluss an diese Zitate vielbeachteter britischer Denker dieser Zeit wendet sich Hayek dann der Frage zu, wer überhaupt die technische Umsetzung einer solchen „sozialen Integration“ des Individuums in eine zur Einheit verschmolzene Gesamtheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu bewirken imstande sein solle. Seine Darstellung liest sich mit einiger Beklemmung aus der Perspektive des Jahres 2024, nachdem die Periode seit 2020 angefüllt war von öffentlichen Aufrufen, „der Wissenschaft zu folgen“ und Expertenrat tunlichst niemals infrage zu stellen: „Vielleicht haben wir einen Zug der geistigen Entwicklung in Deutschland noch nicht genügend betrachtet, einen Zug, der jetzt in fast der gleichen Form in England auftaucht: Wissenschaftler, die für eine ‚wissenschaftliche‘ Organisierung der Gesellschaft Stimmung machen. Die Ungeduld mit dem Laien und die Verachtung für alles, was nicht von einem überlegenen Geist bewusst nach einer wissenschaftlichen Blaupause organisiert worden ist – das alles waren Erscheinungen, die man im öffentlichen Leben Deutschlands schon seit Generationen kannte. Die Beflissenheit, mit der sich dann die deutschen Gelehrten und Wissenschaftler fast ausnahmslos den neuen Machthabern zur Verfügung stellten, ist eines der erschütterndsten und beschämendsten Schauspiele in der ganzen Geschichte des Aufstiegs des Nationalsozialismus. Wir hatten bereits Gelegenheit, ein englisches Erzeugnis dieses Schlages zu erwähnen. Wir wollen hier eine Arbeit betrachten, die typischer noch und in weiten Kreisen bekannt geworden ist. C. H. Waddingtons kleine Schrift mit dem charakteristischen Titel ‚The Scientific Attitude‘ ist ein besonders gutes Beispiel für eine Literaturgattung, die sich der besonderen Gunst der einflussreichen Wochenschrift ‚Nature‘ erfreut und die nicht nur größere politische Macht für Wissenschaftler fordert, sondern auch gleichzeitig mit Begeisterung für totale ‚Planung‘ eintritt. Waddington ist sich darüber klar, dass die von ihm dargestellten und unterstützten Tendenzen zwangsläufig zu einem totalitären System führen, doch scheint er das der ‚heutigen wild gewordenen Affenhauszivilisation‘, wie er es nennt, vorzuziehen. Die Freiheit, so erklärt er, ‚ist für einen Gelehrten ein sehr unerfreuliches Thema, zum Teil deshalb, weil er letzten Endes nicht davon überzeugt ist, dass es so etwas gibt‘. Die ‚Hure der humanistischen Bildung‘, über die Waddington so viel Abfälliges zu sagen weiß, scheint uns gründlich in die Irre geführt zu haben, als sie uns Toleranz gelehrt hat! Wie in fast allen Veröffentlichungen dieser Art werden auch Waddingtons Überzeugungen durch seinen Glauben an ‚zwangsläufige historische Tendenzen‘ bestimmt.“

Doch nicht nur Wissenschaftler sind, den Beobachtungen Hayeks zufolge, der Versuchung erlegen, sich durch Anbiederung an die Machthaber vermeintlich welthistorisch zwingende Privilegien zu erdienen. Auch der Typus des Unternehmers lernt innerhalb kollektivistisch organisierter Staaten schnell, sich seine Vorteile zu sichern: „Es ist nicht verwunderlich, dass die Unternehmer gern beides genießen möchten, nämlich sowohl das hohe Einkommen, das die Erfolgreichen unter dem Wettbewerbssystem beziehen, wie auch die Sicherheit der Staatsbeamten. Gewiss mögen die Unternehmer während einer Übergangszeit ihre Erwartungen erfüllt sehen, indes werden sie schon bald – wie bereits ihre deutschen Berufsgenossen – erfahren, dass sie nichts mehr zu sagen haben, sondern sich unter allen Umständen mit der Macht und dem Einkommen begnügen müssen, die die Regierung ihnen zugesteht. Es sollte klar sein, dass zum Beispiel die höheren Löhne, die ein Monopolist bezahlen kann, genauso aus der Ausbeutung stammen wie sein eigener Gewinn und dass sie nicht nur alle Konsumenten, sondern noch weit mehr alle anderen Lohnempfänger schädigen. Ein Privatmonopol ist kaum jemals vollständig und noch seltener von langer Lebensdauer. Aber ein Staatsmonopol ist immer ein Monopol unter staatlichem Schutz.“

Doch über die Unternehmer hinaus sind als Wirtschaftsteilnehmer in einer solchen totalitären Organisation auch weitere Kreise strukturell korrumpiert. Die Verdrehung der eigenen Interessen erfasst selbst die Arbeiter und ihre Organisationen: „Es war der verhängnisvolle Wendepunkt in der neuesten Entwicklung, als die Arbeiterbewegung unter den Einfluss wettbewerbsfeindlicher Lehren geriet und sich selbst in den Kampf um Privilegien verstrickte. Das jüngste Anwachsen des Monopolismus ist weitgehend auf die bewusste Zusammenarbeit des organisierten Kapitals und der organisierten Arbeiterschaft zurückzuführen, durch die die privilegierten Arbeitergruppen an den Monopolgewinnen auf Kosten der Allgemeinheit und besonders der Ärmsten teilnehmen. Die Arbeiterführer, die heute so laut verkünden, ‚dass sie mit dem verrückten Wettbewerbssystem ein für alle Mal fertig sind‘, fällen damit das Todesurteil über die Freiheit des Individuums. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, entweder eine Ordnung unter der unpersönlichen Disziplin des Marktes oder eine vom Willen weniger Individuen beherrschte Ordnung, und diejenigen, die darauf ausgehen, die erste zu zerstören, helfen – wissentlich oder unwissentlich –, die zweite aufzurichten.“

Aus der Sicht des Jahres 2024 sind die Beobachtungen Hayeks nicht alleine deswegen erschütternd, weil die ganze Welt in den Jahren seit 2020 genau einen derartigen Exzess von Staatsmonopolen und gesellschaftlicher Zwangsorganisation im Namen einer selbstanmaßend zweifelsfreien Wissenschaft durchleben musste. Insoweit ist das gesamte Horrorszenario einer Verschmelzung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft unter der Leitung einer kleinen Anführergruppe gleichsam schockartig wahr geworden.

Dass die Analyse Hayeks allerdings nicht nur auf ein staatsrechtliches Krisenszenario zutrifft, sondern in der zwischenzeitlichen Entwicklung auch über das Ende des Nationalsozialismus am 8. Mai 1945 mit unerbittlicher Konsequenz valide war, mögen drei detailliertere Blicke auf die Zeit der real existierenden Deutschen Demokratischen Republik, auf den Augenblick ihres Zusammenbruchs und auf die anschließende selbstkritische Einsicht eines ihrer Hauptakteure erhellen.

Der österreichische Psychologe Paul Watzlawick überführte die scheinbar historisch zwingende Staatsführung durch Erich Honecker in Ost-Berlin in einem Beitrag über „Bausteine ideologischer Wirklichkeiten“ bereits 1979 mit seinem Hinweis auf eine Arbeit Martin Gregor-Dellins: „Ein faszinierendes Beispiel [für die scheinbare Lösung paradoxer Lagen] liefert Martin Gregor-Dellin in einer Studie über sozialistische Semantik in der DDR. Er analysiert eine Rede Erich Honeckers und stößt dabei auf den Satz ‚Das ist ein gesetzmäßiger Prozess, den unsere Partei auf lange Sicht plant und leitet.‘ Dazu führt Gregor-Dellin aus: ‚Hier verrät das Vokabular den Betrüger; es stellt den angeblichen Sachwalter der Gesetze als Manipulator bloß. Also werden Gesetze nicht, nach Marx, von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten bestimmt, sondern von der Partei, die selbst die gesetzmäßigen Prozesse plant und leitet. Es ist mir nicht darum nachzuweisen, dass Honecker den Marxismus verrät. Das Beispiel zeigt nur, dass durch den Selbstlauf einer vom Intellekt kaum mehr kontrollierten Sprache hier plötzlich für eine Sekunde das Visier geöffnet wird. Was hervorblickt, ist der Zynismus des Zentralkomitees, in dem man sich längst darüber einig ist, dass Gesetzmäßigkeiten nicht eingehalten, sondern vorgeschrieben werden müssen.‘ Und doch, dem Gläubigen bleibt damit der Schein gewahrt.“

Der Mediävist und Linguist Horst Dieter Schlosser setzte sich bereits unmittelbar im Augenblick des Untergangs der DDR mit ihrer sprachlichen und gedanklichen Realität auseinander. In „Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie“ hielt er 1990 ebenso kleinteilig wie erhellend den unbedingten Willen der DDR-Administration fest, jedwede wirtschaftliche Tätigkeit der Bürger einer total überwachten Mikrosteuerung zu unterwerfen: „Dem ‚sozialistischen Wettbewerb‘ als diffizilem System zur Leistungssteigerung im DDR-Arbeitsleben konnte sich kaum jemand entziehen. Unter Federführung des FDGB [Freier Deutscher Gewerkschaftsbund] sollte der Wetteifer der Werktätigen zu einer koordinierten Übererfüllung vorgegebener Planziele gebracht werden. In diesem Zusammenhang wurde 1974 der Begriff des Gegenplans eingeführt, der grundsätzlich eine Selbstverpflichtung der Arbeitskollektive zur Überbietung von Planvorgaben enthalten sollte. Die persönlichen und kollektiven Leistungen wurden auf offiziellen Formularen abgerechnet, die unter anderem die Normerfüllung und ein Fehlerlimit in Prozentangaben, die Einsparung von Grundarbeitszeit, Grundmaterialkosten und Ähnliches in Markbeträgen, die Anzahl von eingereichten neueren Vorschlägen, die Auslastung der Grundmittel (etwa der Werkzeugmaschinen) in Zeitangaben enthalten mussten. Die Spezifik des DDR-Systems lag in der Einbindung aller Einzelpläne in eine volkswirtschaftliche Gesamtplanung, darüber hinaus in seiner steten Anbindung an die Ideologie eines veränderten gesellschaftlichen Bewusstseins der arbeitenden Bevölkerung und einer einheitlichen ‚sozialistischen Arbeitsmoral‘. Diese sollten auch anderen freiwilligen Leistungen zugrunde liegen, etwa im ‚Mach Mit!‘-Wettbewerb oder im Wettbewerb um den Titel ‚Bereich der vorbildlichen Ordnung, Disziplin und Sicherheit‘, womit oft nicht mehr gemeint war als die Beseitigung von Schmutz und Schutt auf Gehsteigen durch freiwillige Sondereinsätze der Anwohner. Viele echte freiwillige Leistungen erbrachte der DDR-Bürger jedoch in der Feierabendarbeit, in der er einen nicht geringen Teil des Volksvermögens schuf. Im Gegensatz zur westdeutschen Schwarzarbeit waren solche Tätigkeiten nicht rechtswidrig, sondern wurden sogar gefördert, weil sie auch öffentliche Arbeiten umfassten, die nicht im Plan waren.“

Günter Schabowski, der am 9. November 1989 in seiner legendären Pressekonferenz scheinbar unbedacht die Grenzen der DDR zum Einsturz brachte, resümierte zwanzig Jahre später in seinem Buch „Wir haben fast alles falsch gemacht“: „Macht bedeutet die Alleinherrschaft der Kommunisten. Schwächung, Gefährdung oder Infragestellung der Macht bedeutet Vergehen an der Menschheit, an ihren Interessen, am sozialistischen Ideal, an der Zukunft. Die rote Macht sah sich nicht nur von äußeren konterrevolutionären Feinden umzingelt. Sie hegte ein tiefverwurzeltes Misstrauen gegen die werktätigen Massen, die sie befreien wollte. Diese Mehrheit galt potenziell als anfällig für die materielle und geistige Verführung durch den Klassenfeind. Deshalb war die Diktatur des Proletariats eine über das Proletariat verhängte Beaufsichtigung. Da die Entwicklung in die klassenlose Zukunft nach bestimmten Gesetzen verläuft, so das dogmatische Paradoxon, konnten Fehl- und Rückschläge nur das Werk des äußeren Feindes im Zusammenspiel mit bewusster oder unbewusster Komplizenschaft der Bürger sein. Machtsicherung kulminierte folglich in Überwachungen, Verfolgungen und Verhaftungen.“

Die Worte Günter Schabowskis über konterrevolutionär induzierte Fehl- und Rückschläge der Macht, denen es zum Wohle einer uneinsichtigen Bevölkerung mit flächendeckender Überwachung und notfalls Verhaftungen Unwilliger zu begegnen gelte, erinnern nicht nur fatal an die ab dem Jahr 2021 weitreichend proklamierte, in Wahrheit aber kontrafaktische „Pandemie der Ungeimpften“. Der Ruf, die für Verführungen anfälligen Massen mit alleinherrschaftlicher Macht zu ihrem eigenen Glück zu zwingen, fand bekanntlich auf dem Höhepunkt der Pandemiebekämpfung gesellschaftlich wie medial erheblichen Anklang. Der selbst aus Ost-Berlin stammende Schriftsteller Thomas Brussig forderte am 9. Februar 2021 in der „Süddeutschen Zeitung“ drakonische Maßnahmen für die Volksgesundheit und überschrieb seinen Aufruf mit den Worten: „Mehr Diktatur wagen“. Der vielfach ausgezeichnete Intellektuelle formulierte: „Vermutlich haben die viel gerühmten ‚Väter des Grundgesetzes‘ in ihrem nachvollziehbaren Eifer, ein Bollwerk gegen eine Wiederholung der Nazidiktatur zu schaffen, vergessen, dass während einer Seuche die Ausübung von Grundrechten eine Gefahr für die Gesamtbevölkerung darstellen kann.“

Wo es einer Veranschaulichung bedarf, um den von Hayek warnend beschriebenen kollektivistischen Weg in die Knechtschaft durch unterwürfige Aufopferung des Individuums und Schaffung totaler technokratischer Machtstrukturen als überzeitlicher politischer Konstante zu beschreiben, da ist aus gegenwärtiger Sicht kaum möglich, ein besseres Beispiel zu finden: Die Totalitären, sie sind nach wie vor mitten unter uns.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Ideale und ihre materiellen Voraussetzungen
| Kapitel 14

Es reicht nicht für ein gelingendes und gedeihliches Zusammenleben, wenn eine Gesellschaft nur politische Ideale formuliert. Sie muss sich deren Verwirklichung auch rein tatsächlich leisten können. Damit steht aber zentral die Frage im Raum, welche wirtschaftlichen Grund­lagen technisch geschaffen – und kulturell erhalten – werden müssen, um die Realisierung der erstrebten politischen Zielvorstellungen zu ermöglichen. Kollidieren die ökonomischen Notwendigkeiten mit den politischen Wünschen, droht eine Abkehr von wirtschaftlicher Vernunft mittelbar zu einem gesellschaftspolitischen Desaster insgesamt zu werden.

Hayek erörtert, wie sich der gesellschaftliche Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine geistige Stimmungslage entwickelt hatte, für deren Bezeichnung er den Namen „Öko­no­mophobie“ vorschlägt: „Wir haben bereits gesehen, dass die ‚wirtschaftliche Umdeutung‘ vormals rein politischer Ideale – als da wären Freiheit, Gleichheit und Sicherheit – eine der Hauptforderungen von Menschen ist, die zur gleichen Zeit das Ende des wirtschaftlichen Denkens verkünden. Ebenso wenig lässt sich aber bezweifeln, dass Menschen sich heute in ihrem Denken und Handeln mehr als je zuvor von [zweifelhaften] wirtschaftlichen Lehren leiten lassen, nämlich von dem sorgsam genährten Glauben an die Irrationalität unseres Wirtschaftssystems, von falschen Behauptungen über einen ‚möglichen Güterüberfluss‘ oder von Pseudotheorien über die zwangsläufige Entwicklung zum Monopol. Unsere Generation wehrt sich bei alledem dagegen, wirtschaftliche Notwendigkeiten anzuerkennen. ‚Ökono­mo­phobie‘ dürfte eine zutreffende Bezeichnung für diese Haltung sein.“

Auf den modernen Menschen der Industriegesellschaft wirke die Vorstellung ein, er werde von anonymen Kräften gesteuert, die er nicht erkennen und deswegen auch nicht beherrschen könne. Damit werde bei ihm die Sehnsucht erweckt, diese Kräfte unter Kontrolle zu bringen, um dadurch den aus ihnen resultierenden, unangenehm empfundenen Situationen ausweichen zu können. Die kräftezehrende Herausforderung der täglichen Anpassung an solche Wirkungs­zu­sammen­hänge soll also am besten zum Fortfall gebracht werden. Solche Beseitigungs­ver­suche aber ändern den Kontext der betreffenden Gesellschaft insgesamt grundlegend: „Gerade dadurch, dass die Menschen sich früher den unpersönlichen Kräften des Marktes unterworfen haben, ist die Entwicklung der Kultur möglich gewesen. Wenn wir uns hier unterordnen, tragen wir jeden Tag zur Errichtung eines Bauwerkes bei, das größer ist, als irgendjemand von uns insgesamt erfassen könnte.“ Die Illusion, es lasse sich ein gesamthaft geplanter gesell­schaft­licher Bau dann ohne jedwede individuelle Anpassungsnöte gestalten, ist aber trügerisch: „Der Mann, der ängstlich darauf bedacht ist, sich von den Beschränkungen, die er heute empfindet, zu befreien, macht sich nicht klar, dass die neuen Beschränkungen, die an die Stelle der alten dann von dem Staat bewusst auferlegt werden müssen, sogar noch drückender sein werden.“ Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die bewusste Gestaltung einer gesamthaften Gesellschaftsmaschine durch mächtige Sozialingenieure nicht nur fremdbestimmende totalitäre Strukturen schaffe, sondern zwangsläufig auch die gewachsene Kultur der betref­fenden Gemeinschaft vernichte und zuletzt sogar allen wirklichen Fortschritten hinderlich im Wege stehe.

Über den entscheidenden Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft insgesamt und den individuellen politischen Selbst­ver­wirk­lichungs­po­tenzialen aller Bürger formuliert Hayek: „Es steht außer Zweifel, dass das Schicksal unserer Kultur letzten Endes von der Lösung der wirtschaftlichen Probleme abhängt. Und man sollte sich dabei immer vor Augen halten, dass der wesentliche Faktor, der den Aufstieg des Tota­li­tarismus auf dem europäischen Kontinent entscheidend geprägt hat, der Umstand einer plötzlich weithin enteigneten Mittelklasse war.“

Wie schon zuvor in seinen gesellschaftspolitischen Grundlegungen betont Hayek auch hier wieder die Sinnhaftigkeit einer gesellschaftlichen Existenzabsicherung für jeden Einzelnen, die indes nicht zu kontraproduktiven ökonomischen Verkrustungen führen dürfe: „Man sollte gewiss alles tun, um jedem Einzelnen ein einheitliches Existenzminimum zu sichern. Aber gleichzeitig sollten wir offen aussprechen, dass mit der Zusicherung eines solchen äußersten Minimums alle Ansprüche auf eine privilegierte Sicherheit in einer besonderen Klasse fallen müssen. Es darf also keiner Gruppe mehr erlaubt sein, im Interesse der Aufrechterhaltung ihres spezifischen Lebensstandards den Zuzug [anderer] in ihren Beruf zu verhindern.“ Eine moderne Demokratie könne es absehbar nicht überleben, wenn der allgemeine Lebensstandard spürbar gesenkt oder der wirtschaftliche Fortschritt längerfristig angehalten werde.

In welchem Ausmaß auch die kulturellen Standards in einer Gesellschaft (die sich aus der lange geübten Bewältigung von Unsicherheiten in der Gemeinschaft ergeben hatten) Grundlage rechtlicher und technischer Kooperation sind, werde deutlich, wenn diese Gewohnheiten plötzlich unbedeutsam werden: „Wir halten uns zwar in der Regel viel auf unser empfindlicher gewordenes soziales Gewissen zugute, aber es fragt sich, ob dies durch unser individuelles Verhalten im täglichen Leben gerechtfertigt ist. Auf der negativen Seite stellt unsere Generation mit ihrer Entrüstung über Ungerechtigkeiten in der bestehenden Gesellschaftsordnung wohl alle vorhergehenden Generationen in den Schatten. Aber wenn wir fragen, wie sich das auf unseren Standard für das Verhalten von Mensch zu Mensch ausgewirkt hat, muss die Antwort wohl anders lauten. Denn nur dann, wenn wir für unsere eigenen Interessen selber die Verantwortung übernehmen und zugleich die Freiheit haben, diese Interessen zu opfern [oder es nicht zu tun], hat unsere Entscheidung für einen bestimmten Verzicht einen sittlichen Wert. Wir haben demgegenüber kein Recht, auf Kosten anderer großzügig zu sein. Und selbst im Altruismus liegt keinerlei Verdienst, wenn er erzwungen wird.“

Die moralischen Auswirkungen einer – wie wir heute sagen würden: sozialstaatlichen – Gesellschaftsorganisation auf die moralische Befindlichkeit einer Gemeinschaft sind erheblich: „Es sind zwei grundverschiedene Dinge, ob man fordert, dass die Regierung wünschenswerte Zustände herstellt, oder ob man selbst willens ist, das zu tun, was man für richtig hält, auch wenn es unter Aufopferung der eigenen Wünsche oder sogar gegen eine feindselige öffentliche Meinung geschieht. Aus vielen Anzeichen gewinnt man den Eindruck, dass wir schlicht duld­samer gegen besondere Missstände geworden sind und sehr viel gleichgültiger gegen Unge­rech­tigkeiten im Einzelfall, seit wir unseren Blick auf ein ganz anderes System gerichtet haben, in dem ein Staat überall nach dem Rechten sieht. Die nur regelmäßige Abge­ord­neten­wahl, auf die das sittliche Entscheiden des Individuums immer mehr beschränkt wird, gibt keine Gelegenheit, seine eigenen Moralanschauungen auf die Probe zu stellen.“

Der Wandel im sittlichen Verhalten aller Individuen wirkt sich folgerichtig auch auf die moralischen Topoi aus, die im politischen Alltagsdialog angesprochen werden: „Gibt es [heute noch] einen populären Schriftsteller oder Redner, der es wagen würde, den Massen zu sagen, dass sie um eines ideellen Zieles willen nötigenfalls materielle Opfer bringen müssten? Ungerechtigkeiten gegen Einzelpersonen, die von der Regierung im Interesse einer Gruppe begangen werden, begegnen [heute] einer Gleichgültigkeit, die sich von Gefühllosigkeit kaum noch unterscheidet. Und die krassesten Verstöße gegen die elementarsten Menschenrechte wie die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungen finden immer häufiger Unterstützung sogar von angeblichen Liberalen. All dies zeigt, dass unser sittliches Empfinden sich eher abgestumpft als geschärft hat.“

Dass jeder Versuch, diese Entgleisungen und Verwerfungen auf sittlichem Gebiet mit allen ihren schädlichen Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik wieder einzuhegen, große Anstren­gungen erfordert, sah Hayek mit großer Klarheit: „Wenn uns in dem ideologischen Krieg Erfolg beschieden sein soll und wir die anständig gesinnten Elemente in feindlichen Ländern für uns gewinnen wollen, müssen wir uns zuvorderst den Glauben an die traditionellen Werte, für die unser eigenes Land in der Vergangenheit einstand, wieder zu eigen machen. Und wir müssen den moralischen Mut haben, die Ideale, die unsere Feinde angreifen, mit aller Kraft zu ver­tei­di­gen. Es kommt nicht auf die neuesten Verbesserungen unserer sozialen Einrich­tun­gen an, sondern auf unseren unerschütterlichen Glauben an jene Traditionen, die England zu einem Land freier und aufrechter, duldsamer und unabhängiger Menschen gemacht haben.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Ausblick auf die internationale Ordnung
| Kapitel 15

Das 15. und letzte Kapitel der „Road to Serfdom“ widmet Hayek einem Ausblick auf die weiteren Entwicklungen der internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Frappierend ist dabei nicht nur die Nüchternheit, mit der er – aus der Perspektive des Jahres 1944 – die zu erwartende Kooperation der zu diesem Zeitpunkt noch auf Leben und Tod miteinander kämpfenden Nationen postuliert. Irritierend ist insbesondere aus dem Rückblick des Jahres 2024, welche heute akuten und aktuellen Probleme dem europäischen Kontinent (und vielleicht darüber hinaus weiten Teilen der Welt) hätten ersparten bleiben können, wenn entscheidende Akteure das Werk Hayeks gelesen, verstanden und in die praktische Politik umgesetzt hätten.

Konkret wird Deutschland in dem Augenblick der hiesigen Retrospektive auf die Arbeit Hayeks ökonomisch von einem Wirtschaftsminister dominiert, dessen Erklärung, er favorisiere eine „Lieblingsökonomin“, legendär geworden ist. Robert Habeck hält die Einsichten Mariana Mazzucatos für relevant, die sich den Staat als denjenigen vorstellt, der anstelle von vielen Unternehmern selbst machtvoll unternehmerische Entscheidungen zu fällen und Richtungen vorzugeben habe, die die Märkte nicht finden und umsetzen könnten. Warum derartige Irrlehren auch 80 Jahre nach Hayeks Erläuterung der Unmöglichkeit solchen menschlichen Handelns noch immer nicht überwunden sind, erstaunt. Die rein optische Täuschung, dass ein Staat kraft seiner Machtinstrumente vorübergehend die Illusion erzeugen kann, gewisse organisatorische Vorkehrungen seien ebenso funktionsgeeignet wie unternehmerisch kreativ auf freiwilliger Basis konstruierte, ersetzt nicht die nötige Idee für eine gute Lösung. Märkte werden geprägt durch ihre Erfolge, Staaten durch ihre Machtpotenziale. Dass Robert Habeck diese fehlende Analyse seiner Starberaterin nicht erkennt, wirkt sich fatal aus. Und Hayek sah es 1944 im Prinzipiellen voraus.

Dass internationale Kooperation die prägende politische und wirtschaftliche Grundlage menschlicher Existenzformen nach dem Zweiten Weltkrieg sein werde, war Hayek, wie gesagt, 1944 bereits klar. Zugleich aber sah er auch, dass die Ausweitung der innerstaatlichen Probleme zentraler Verwaltungswirtschaft durch ihre Internationalisierung nicht zu lösen sein würden, sondern sich lediglich noch deutlich verschärfen müssten. Knapp gesagt, ließe sich formulieren: Hayek beschrieb die Gründe für das Ende der Europäischen Union (und den Ablauf ihres Scheiterns), lange bevor sie ins Leben gerufen war.

Das Kernproblem sah er in der Mischung aus planwirtschaftlichen Zwängen und staatlichen Gewaltpotenzialen: „Dass wenig Hoffnung auf eine internationale Ordnung oder dauernden Frieden besteht, solange jedes Land alle beliebigen Maßnahmen ergreifen kann, die es in seinem eigenen Interesse für wünschenswert hält, seien sie auch schädlich für andere, braucht heute kaum noch betont zu werden. Viele Arten der Wirtschaftsplanung sind nämlich nur dann tatsächlich durchführbar, wenn die Planungsbehörde alle Fremdeinflüsse wirksam fernhalten kann. Die Gefahren, die sich aus einer künstlich herbeigeführten Wirtschaftssolidarität sämtlicher Bewohner jedes einzelnen Landes und aus der Bildung eines neuen Blocks mit entgegengesetzten Interessen, die durch die nationale Planwirtschaft entsteht, ergeben, sind mit Händen zu greifen. Wenn internationale Wirtschaftsbeziehungen anstelle der Beziehungen lediglich zwischen Individuen zu Beziehungen zwischen ganzen Staaten werden, dann werden sie zwangsläufig auch Ursache von Reibungen zwischen ganzen Nationen. Es ist einer der verhängnisvollsten Irrtümer, zu glauben, internationale Reibungen würden sich vermindern, wenn man die [privatwirtschaftliche] Marktkonkurrenz um Rohstoffe durch Verhandlungen zwischen Staaten ersetzt. Auf diese Weise werden Rivalitäten, die zwischen Individuen ohne Rückgriff auf [militärische] Gewalt ausgetragen werden, auf mächtige und gerüstete Staaten übertragen, die zudem nicht einmal einer rechtlich übergeordneten Instanz unterworfen sind.“

Will man die schon im Inneren eines Landes planwirtschaftlich provozierten Paradoxien aus Interessenlagen also auf eine internationale Ebene übertragen, ergeben sich für die zentralisierte Wirtschaftssteuerung noch größere Probleme: „Die Schwierigkeiten der bewussten Lenkung eines nationalen Wirtschaftsprozesses nehmen zwangsläufig ein noch größeres Ausmaß an, wenn dasselbe auf internationaler Grundlage versucht wird. Mit zunehmender Größe verringert sich die Übereinstimmung über die Reihenfolge der Ziele, womit die Notwendigkeit einhergeht, Macht und Zwang einzusetzen.“

Hayek konturiert geradezu prophetisch die Gründe für ein künftiges Auseinanderbrechen der wirtschaftlich zentralgesteuerten Europäischen Union mit ihren unrealistisch übersteigerten Vereinheitlichungsperspektiven: „Solange es sich darum handelt, Menschen zu helfen, die uns lebendig vor Augen stehen, sind wir für gewöhnlich bereit, in die Tasche zu greifen. Aber man braucht sich nur die Probleme vorzustellen, die eine Planwirtschaft in einem Gebiet wie Westeuropa aufwerfen würde, um sich zu verdeutlichen, dass die moralischen Grundlagen für ein solches Unterfangen völlig fehlen. Die meisten Menschen sehen diese Schwierigkeiten nicht, weil sie bewusst oder unbewusst annehmen, dass sie es sind, die diese Fragen [der Zuteilung knapper Güter] für andere entscheiden, und weil sie von ihrer eigenen Fähigkeit überzeugt sind, dies gerecht und unparteiisch bewerkstelligen zu können. Wenn man aber glaubt, dass das Wirtschaftsleben eines riesigen Gebietes, das viele verschiedene Völker umfasst, mittels demokratischer Verfahren gelenkt und geplant werden könnte, dann verrät man völlige Unkenntnis der Probleme, die eine solche Planung aufwirft. Noch mehr als eine nationale würde eine internationale Planwirtschaft nichts anderes sein als eine nackte Gewaltherrschaft.“

Bei dieser Gelegenheit gibt Hayek zugleich einen weiteren Hinweis darauf, warum Planwirtschaften schlechterdings systemisch zu Gewaltexzessen neigen, ohne dass eine besondere nationalkulturelle Prädisposition der Nationalsozialisten zusätzlich für dieses dort sichtbare Phänomen entscheidend ist: „Es wäre falsch, die Brutalität und die Missachtung, die die Deutschen gegenüber allen Wünschen und Idealen der kleineren Völker an den Tag gelegt haben, nur für ein Zeichen ihrer besonderen Verworfenheit zu halten; es liegt vielmehr in der Natur der von ihnen bewerkstelligten Aufgabe selbst, dass dies zwangsläufig wird.“

Insbesondere das heute so beliebte Ziel einer „Herstellung gleicher Lebensverhältnisse im gesamten Gebiet der Europäischen Union“ war von Hayek bereits als eine ebenso gefährliche wie unmöglich zu verwirklichende Illusion erkannt: „Man hört heute viel verworrenes Gerede über ‚Planwirtschaft zum internationalen Ausgleich des Lebensstandards‘. Es ist lehrreich, wenn man einen dieser Vorschläge etwas eingehender betrachtet, um zu erkennen, worauf er im Ergebnis hinausläuft. Wenn man die bewusste Angleichung des Lebensstandards plant, so bedeutet dies, dass verschiedene Ansprüche gegeneinander abgewogen werden müssen, dass einige vor anderen bevorzugt werden und dass die Letzteren warten müssen, bis sie an die Reihe kommen. Es gibt aber kein Kriterium, dass uns zu entscheiden erlaubt, ob die Forderungen eines armen rumänischen Bauern dringlicher oder weniger dringlich sind als die Notlage des slowakischen Berghirten. Aber wenn die Hebung des Lebensstandards aller nach einem einheitlichen Plan erfolgen soll, muss irgendjemand die Berechtigung dieser Forderungen abwägen und zwischen ihnen entscheiden. Wird ein solcher Versuch in einem von mehreren kleinen Nationen bewohnten Gebiet gemacht, von denen jede fanatisch an die eigene Überlegenheit glaubt, so heißt das, eine Aufgabe in Angriff nehmen, die unausweichlich zu Gewalt führt.“

Auch hier wieder bewegt Hayek die Beobachtung, dass ausgerechnet Menschen, die sich selbst für unschuldig und anständig halten, derlei Aufgaben nur allzu gerne in die Hand nehmen, um dann zuletzt – mit bestem Gewissen – Gewalt anzuwenden. Und er mahnt: Siegreichen Nationen eine derart unmögliche moralische Aufgabe wie die der internationalen Mittelverteilung zu übertragen, ist nur ein sicherer Weg, um diese Nationen moralisch zu korrumpieren.

Und sowohl auf der Ebene der Europäischen Union als auch – erst recht – auf der Ebene der Vereinten Nationen gilt bis heute erkennbar der Satz: „Es ist unmöglich, gerecht zu sein oder die Menschen ihr eigenes Leben leben zu lassen, wenn eine Zentralbehörde die Rohstoffe verteilt und die Märkte zuweist, wenn jede spontane Aktivität genehmigt werden muss und nichts getan werden kann ohne Einwilligung der Zentralinstanz.“ Eine solche Planungsbehörde müsse Herr über das Schicksal ganzer Industrien und Länder sein. Das aber sei der Grund, weswegen ihre Herrschaft in Gewalt umschlägt. Dass es dereinst eine Behörde geben könnte, die nicht nur Rohstoffe, sondern sogar „Verschmutzungsrechte“ zentral verwalten und zuweisen würde, hätte Hayek sich zu diesem Zeitpunkt schwerlich vorstellen können.

Dieses „tödliche Gift der Zentralisierung“ ist mit einer freiheitlich-demokratischen Ordnung aber nicht zu vereinbaren: „Am wenigsten werden wir die Demokratie erhalten oder ihr Wachstum fördern, wenn die gesamte Macht und die wichtigsten Entscheidungen in der Hand einer Organisation liegen, die viel zu groß ist, als dass der normale Mensch sie noch überblicken oder begreifen könnte. Weder ein allmächtiger Superstaat noch eine lose Vereinigung von ‚freien Nationen‘ muss unser Ziel sein, sondern eine Gemeinschaft von Nationen freier Menschen.“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Nachbemerkungen
| Abschluss

Während der Wochen, in denen ich die vorangegangenen Abschnitte formulierte, dachte ich oft an die schelmische Frage Odo Marquards, wozu es überhaupt der Hermeneutik bedürfe, um zu erfahren, was der Inhalt eines Textes sei, sofern man doch den Text selbst besitze und ihn also auch einfach lesen könne. Gleiches ließe sich für die Einführung in ein Buch der Weltliteratur sagen, das natürlich ohne Weiteres für sich selbst sprechen kann. Erst recht aber ließe es sich über ein Werk sagen, über das es bereits eine unübersehbare Vielzahl von gelehrten Bespre­chungen, Zusammenfassungen, Kommentierungen und Erörterungen gibt, das von inzwischen mehreren Generationen rezipiert und in internationalen Foren kenntnisreich debattiert worden ist. Was also motiviert – und legitimiert – diese neuerliche Einführung in das Buch?

Äußerer Anlass zu dieser rückblickend kommentierenden Buchbesprechung aus dem Jahre 2024 in das Jahr 1944 ist natürlich zunächst der 80. Geburtstag des Werkes (dessen Publikation übrigens von den ersten drei angefragten Verlagen abgelehnt worden war). Doch mit dieser runden Zahl erschöpft sich der aktuelle Anstoß zur Thematisierung nicht. Der Jubi­läums­augen­blick fällt vielmehr auch zusammen mit einem Moment, in dem sich Menschen im sogenannten Westen – teils offen einräumend, teils verschämt schweigend – mit der Frage aus­einan­dersetzen: Was ist während der soeben gesehenen „Pandemie“ der Jahre 2020 bis 2023 mit uns, mit unserer Ordnung und unseren Werten, mit unseren Institutionen und mit unseren Konventionen geschehen? Wie konnte es sein, dass wir fast sämtliche, mit großem Ernst und kleinteiliger Akribie über Jahrzehnte errichteten Bollwerke zum Schutze unserer Menschen- und Bürgerrechte binnen weniger Wochen einstürzen sahen?

Insbesondere alle im Sinne Hayeks freiheitlich denkenden Menschen müssen ihren Gesellschaften ein beklemmendes weiteres Mal einen irritierend unreflektierten Rückfall in einen vormoder en, archaisch-kollektivistischen Habitus attestieren. Hinter der proklamierten Monstranz, Leben und Gesundheit besonders der Schwächsten zu schützen und die abstrakten Systeme der Gesundheitswirtschaft funktionsfähig zu erhalten, wurden Einzelne mit ihren Schicksalen vollends vergessen. Das (mit verfassungsgerichtlichem Segen) staatlich zum Stillstand gebrachte Leben vergaß alles individuelle Leid. Senioren starben in Quarantäne und Präfinale sogar in palliativer Isolation mutterseelenallein einsame Tode. Das Bildungssystem entkoppelte Kinder wie Jugendliche von ihren unwiederholbaren Entwicklungsfortschritten. Im Gleichschritt wurden mit staatlicher Macht millionenfach wirtschaftliche Existenzen zerstört. Die Anmaßung von (vermeintlich einzig zutreffendem) Wissen in den Behördenzentralen ging einher mit der Abwertung aller Kritik, kam diese auch noch so qualifiziert und kompetent daher. Der regierungsamtliche Befehl, „der“ Wissenschaft zu folgen und Anordnungen „überhaupt nicht infrage stellen zu dürfen“, markierte nicht mehr nur ein in der Gesamtschau minderrelevantes, postmodernes und postdemokratisches Intermezzo, sondern er rüttelte mutmaßlich längerfristig schadenstiftend an den verlässlich gedachten Grundfesten der westlichen Demokratien. Die Gegenwart hat eine Vorstellung davon bekommen, was Hayek im neunten Kapitel als die „Sicherheit der Kaserne“ beschrieb.

Der gesundheitshygienische Impetus zur gesellschaftlichen Refeudalisierung zielte mit seinen bedingungslosen Imperativen auf eine vormoderne Hörigkeit der nun pandemischen Untertanen. Der gerade noch als üblich gelebte Moralstandard im konkreten Verhältnis von Mensch zu Mensch wurde im Namen des propagandistisch riesenhaft überzeichneten sozialen Gewissens unter einer allgemeinen Emphase der Empörung niedergedrückt und verzwergt. In diesen Abläufen blitzt nicht nur kurz und vorübergehend abbildgetreu die Beschreibung Hayeks aus dem 14. Kapitel seines „Weges zur Knechtschaft“ auf. Der im englischen Original des Buchtitels „Serfdom“ genannte Zustand des entmündigten Knechtes wurde ebenso unvermittelt wie konkret schmerzlich greifbar: Der nun auch vor den rechtsstaatlichen Richtertischen plötzlich unhinterfragbar zum „potenziell asymptomatischen Superspreader“ deklarierte Einzelne fand sich ohnmächtig in der verordneten Einsamkeit seiner gesundheitsamtlich verfügten Absonderung am Ende eines Weges – seines Weges zur Leibeigenschaft. Denn der Leib des Einzelnen ist in einer Pandemie nicht mehr nur die äußere Behausung seines eigenen Willens und seiner unantastbaren Würde, sondern er ist hier – auf das rein Körperlich-Materielle reduziert – eine mögliche Gefahrenquelle, die jetzt unter kollektive Verfügungsgewalten fällt, und sei der Betroffene auch noch so sehr nachweislich kerngesund.

In den historischen Abläufen der fortschreitenden Industrialisierung und den von Hayek dabei vielfach mahnend beschriebenen Konsequenzen des Szientismus droht der Einzelne mit seiner personalen Würde seit jeher unterzugehen. Hayeks Warnung vor den malmenden Kräften des totalen Staates, vor seiner Amoralität und der unkritischen Selbstherrlichkeit seiner Protagonisten reichte weit über das Jahr 1944 hinaus. Sein Plädoyer für die staatliche Garantie dezentraler Freiheitsräume, für den gesetzlichen Respekt vor den Möglichkeiten spontaner Ordnungen und sein Appell, eigene Überzeugungen stets demütig für neue, abweichende Erkenntnisse offenzuhalten, hat die Wiederherstellung des kriegszerstörten Europas nach 1945 wesentlich beeinflusst. Das Jahr 2024 markiert daher nicht zuletzt deswegen auch ein weiteres, 50. Jubiläum: Im Jahr 1974 wurde FriedrichA. von Hayek für seine Arbeiten mit dem Nobelpreis geehrt.

Die Sirenengesänge eines anstrengungsloses Glück verheißenden Kollektivismus haben jedoch in den letzten Jahren und Jahrzehnten wieder merklich an Lautstärke gewonnen. Aktuell will scheinen, dass drei Faktoren das gegenwärtige Weltbild der Menschen jedenfalls im Westen wesentlich prägen: Erstens sind inzwischen alle Menschen gestorben, die noch unmittelbar Zeugnis über die Grauen des Krieges in Zentraleuropa geben konnten; damit gehen eine in ihren möglichen Konsequenzen nicht ansatzweise realistisch abgeschätzte neue Aggressivität und rhetorische Kriegsbereitschaft einher. Zweitens sind die Erinnerungen an den vor einer Generation zusammengebrochenen Ostblock mit seinen zentralverwalteten Mangelexzessen verblasst; damit geht eine neue Bereitschaft einher, den Heilsversprechungen staatlich-hoheitlicher Wirtschaftsplanung neuen Glauben zu schenken. Drittens haben die weltweit seit rund 30 Jahren gedeihlich kooperierenden Märkte den Menschen einen Wohlstand ermöglicht, der Hunger und Frieren, Leid und Mangel, Verteilungskämpfe und Konflikte um Knappheiten vergessen ließ; damit einher geht eine weithin luxuriöse Weltsicht, die den Kult eines priorisierten Umweltschutzes leben will und natürliche Widrigkeiten nicht mehr als existenzgefährdend erkennt. Dieser dreifache Anschein einer ewigen Behaglichkeit und Gefahrlosigkeit scheint die Ursache dafür zu sein, eher unwirkliche Risiken wie die von Atemwegserkrankungen überzubetonen. Gut meinende Menschen mit den besten Absichten folgen Anführern, die sich der epistemologischen Verengungen und der praxeologischen Hindernisse zentralisierter Steuerungssysteme nicht ansatzweise gewahr sind. Ihr Glaube an bewusste und gewollte Planung sozialer Systeme ist ebenso ungebrochen wie unbegründet. Es lohnt, ihnen mit Hayek zuzurufen: „Das Problem, wie Galaxien oder Sonnensysteme entstehen und wie die resultierende Struktur aussieht, ist den Problemen, denen sich die Sozialwissenschaften gegenübersehen, sehr viel ähnlicher als jenes der Mechanik. Für das Verständnis der methodologischen Probleme in den Sozialwissenschaften ist daher ein Studium des Vorgehens von Geologie oder Biologie sehr viel lehrreicher als das der Physik. Auf allen diesen Gebieten können die Strukturen oder stabilen Zustände, die wir studieren, die Art der Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigen, nur erklärt werden, wenn auch die Umstände berücksichtigt werden, die nicht Merkmale der Strukturen selbst sind, sondern besondere Umweltgegebenheiten, in denen sich die Strukturen entwickelt haben und fortbestehen. Gesellschaften unterscheiden sich von einfacheren komplexen Strukturen durch die Tatsache, dass ihre Elemente selbst komplexe Strukturen sind, deren Chance, sich zu erhalten, davon abhängt, Teil der umfassenderen Struktur zu sein. Wir haben es hier also mit einer Integration auf zumindest zwei verschiedenen Ebenen zu tun: einmal, wenn die umfassendere Struktur zur Erhaltung geordneter Strukturen auf der niederen Ebene beiträgt, zum anderen, wenn die Art der Ordnung, die auf der niederen Ebene die Regelmäßigkeiten individuellen Verhaltens bestimmt, zu den Überlebenschancen der Individuen durch ihre Wirkungen auf die Gesamtordnung der Gesellschaft beiträgt. Dies bedeutet, dass das Individuum mit spezieller Struktur und Verhaltensweise seine Existenz in dieser Form einer Gesellschaft besonderer Struktur verdankt, weil es nur innerhalb einer solchen Gesellschaft für jenes vorteilhaft war, einige seiner eigentümlichen Eigenschaften zu entwickeln, während die Gesellschaftsordnung wiederum ein Ergebnis dieser Regelmäßigkeiten des Verhaltens ist, die die Individuen in der Gesellschaft entwickelt haben. Das schließt eine Art von Umkehrung in der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in dem Sinne ein, dass die Strukturen, die eine bestimmte Ordnung aufweisen, deswegen auftreten werden, weil die Elemente dasjenige tun, was notwendig ist, um das Fortbestehen der Ordnung zu sichern.“

Dass Hayek diesen Text zu „Bemerkungen über die Entwicklung von Systemen von Verhaltensregeln“ erst 22 Jahre nach dem „Weg zur Knechtschaft“ formuliert hat, versteht sich aus dem beschriebenen Betrachtungswinkel wie auch aus dem sprachlichen Duktus von selbst. Aber auch schon 1959 beschrieb er die Hybris von Gesellschaftslenkern über „Bewusste Lenkung und die Entwicklung der Vernunft“ sehr deutlich: „Die allgemeine Forderung nach ‚bewusster‘ des sozialen Geschehens ist der Ausdruck des eigentümlichen Geistes unserer Zeit. Dass etwas nicht bewusst als Ganzes gelenkt wird, wird schon an und für sich als ein Mangel und als ein Beweis seiner Irrationalität und der Notwendigkeit betrachtet, an seine Stelle einen bewusst entworfenen Mechanismus zu setzen. Doch scheinen von den Leuten, die den Ausdruck ‚bewusst‘ so freigiebig gebrauchen, nicht viele zu erfassen, was er bedeutet; die meisten scheinen zu vergessen, dass ‚bewusst‘ oder ‚mit Willen‘ Ausdrücke sind, die nur dann einen Sinn haben, wenn sie auf Individuen angewendet werden, und dass das Verlangen nach bewusster Lenkung daher gleichbedeutend ist mit der Forderung nach Lenkung durch einen Einzelnen.“

Je komplexer und je komplizierter Lebensverhältnisse werden, desto vitaler muss das Interesse aller an Menschenwürde interessierten Beteiligten sein, Pluralität und Diversität zuzulassen, statt sich auf die Richtigkeit einer monistisch-zentralen Steuerung zu verlassen. Dezentralität in der Koordinierungsmethodik wird in der Unübersichtlichkeit von Situationen am Ende gar schlechterdings zu einer „Lebensfrage“; so bezeichnet Hayek es im vierten Kapitel seines „Weges zur Knechtschaft“. Totale Übertreibungen und überzeichnete Unmöglichkeiten wie „Zero Covid“ oder „Zero Emission“ münden – wie gesehen – schnell in ganz handgreifliche Überlebensfragen.

Nach allem ersetzt die hier tunlichst knapp gehaltene Einführung in das Werk nicht seine Lektüre insgesamt. Sie soll vielmehr die unveränderte Aktualität und Relevanz der dortigen Erläuterungen darstellen. „Der Weg zur Knechtschaft“ ist kein altes, überholtes Buch, sondern ganz im Gegenteil ein herausragend hellsichtiges und bedeutsames Werk. Im besten Falle macht die Besprechung in einer Zeit der hyperkurzen Aufmerksamkeitsspannen nicht nur neugierig auf das Original, sondern gibt auch späteren Generationen eine Vorstellung davon, wie das Buch im Jahr 2024 rezipiert und verstanden wurde. Hans-Georg Gadamer beschrieb die Aufgabe der Hermeneutik unter anderem damit, dass zwischen dem historischen Autor und dem späteren Rezipienten eine „Horizontverschmelzung“ zu bewerkstelligen sei: Was das Wissen des Urhebers ausmachte, muss mit dem Wissen des Lesers in ein gemeinsames Verständnis gehoben werden, um nicht aneinander vorbeizukommunizieren. Künftige Leser dieser Einführung werden insoweit eine dreifache Horizontverschmelzung zu leisten haben. Hoffentlich mit Gewinn.

Grundlage der hier auf Deutsch zitierten Passagen des ursprünglich auf Englisch publizierten Werkes ist die Übersetzung von Eva Röpke aus dem Jahr 1945. Die Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft hat diese Version in Kooperation mit dem Verlag Mohr Siebeck und unter der Federführung von Manfred E. Streit im Jahr 2004 – also vor genau 20 Jahren, ein drittes Jubiläum – nochmals publiziert. Ich habe mir für mein hier ganz unwissenschaftliches Publikationsvorhaben allerdings die Freiheit genommen, die Übertragungen Eva Röpkes nochmals nach heutigen Sprachüblichkeiten aktualisierend zu modifizieren. Wo sie etwa von „Kontrahenten“ spricht, habe ich die Benennung als „Vertragspartner“ vorgezogen; aus der heute eher unvertrauten „Obrigkeit“ sind die „Regierung“ oder der „Staat“ geworden, um so irreführende gegenwärtige Assoziationscluster beim Verständnis zu vermeiden. Zudem zitiere ich nicht chronologisch aus dem Buch, sondern munter kreuz und quer. Sogar Konjunktive habe ich geändert, wo es mir geboten erschien. All dieses Feinschleifen soll einzig dem Zweck dienen, die Verständlichkeit für den heutigen Leser zu optimieren.

Und über allem schwebt der zentrale Rat: Lesen Sie das Original!

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Kontakt

Vielen Dank für Ihre Nachricht.
Sie wurde erfolgreich versendet.

In Kürze erhalten Sie von uns eine E-Mail in der wir Ihnen den Versandt Ihrer Nachricht bestätigen.

Kontakt

Schreiben Sie uns eine E-Mail.

* Pflichtfeld

* Pflichtfeld

Hinweis:
Sie können Ihre Einwilligung für die Zukunft jederzeit per E-Mail an widerrufen. Detaillierte Informationen zum Umgang mit Nutzerdaten finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Consent Management Platform von Real Cookie Banner