Literatur von Welt 80 Jahre "Der Weg zur Knechtschaft"
Fortlaufende Reihe in 15 Kapiteln

80 Jahre nach »The Road to Serfdom«

Friedrich August von Hayek veröffentlichte im März 1944 sein legendäres Buch „The Road to Serfdom“. Ein Jahr später erschien das Buch in deutscher Sprache. Dort wird der Titel mit „Der Weg zur Knechtschaft“ übersetzt. Sprachlich ergibt sich hierdurch eine gewisse Entschärfung. Denn das englische „serfdom“ bezeichnet eher die volle Leib­eigen­schaft, die dem Betroffenen noch weniger Hand­lungs­mög­lich­keiten belässt, als es eine Knechtschaft ohnehin schon tut. Das Sujet des Werkes ist heute so aktuell wie seinerzeit: Staatliche Zwangs­­ver­­wal­tungs­­wirt­­schaft einerseits und individuelle Menschenwürde andererseits schließen einander aus. Ein Mensch kann nur entweder frei und persönlich handelndes Subjekt sein oder fremd­bestimm­tes, behandeltes Objekt in einem aus anderen Mächten konstruierten Ganzen. Die Konse­quenzen des individuellen Autonomieverlustes in einem insgesamt geplanten und rücksichtslos vollzogenen Kollektiv werden von Hayek minutiös in Ursache und Wirkung beschrieben.

In einer fortlaufenden Reihe von 15 Kapiteln geht Carlos A. Gebauer auf Hayeks Wege zur Knechtschaft ein.

Carlos A. Gebauer ist Fach­anwalt für Medizin­recht, Publizist und Moderator. Er ist stell­ver­treten­der Vor­sit­zender im Zweiten Senat des Anwalts­gerichts­hofes NRW, Dozent an der Liechten­stein Academy und stell­vertre­tender Vorsitzender und Justiziar der Hayek-Gesellschaft.
Hayeks Warnung vor der Knechtschaft | Einführung

In einem Vorwort zur Neuauflage des Werkes im Jahre 1971 hielt Hayek selbst fest: „In seiner ursprünglichen englischen Fassung ist das Buch 1944 erschienen. Es war in erster Linie an jene Kreise der sozialistischen Intelligenz Englands gerichtet, die im Nationalsozialismus eine ‚kapitalistische‘ Reaktion gegen die sozialen Tendenzen der Weimarer Republik sahen, und sollte ihnen verständlich machen, dass es sich im Gegenteil um eine Fortentwicklung des Sozialismus handelte. Zu der Zeit, als ich dieses Buch schrieb, wurde die grundsätzliche Ähnlichkeit des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Kommunismus noch keineswegs allgemein gesehen. Meine Absicht war es, zu zeigen, dass es nicht die besonderen Ziele waren, denen die verschiedenen totalitären Systeme zu dienen vorgaben, die ihre Brutalität hervorriefen, sondern dass diese eine notwendige Folge jedes Versuches sein müssen, eine ganze Gesellschaft völlig den von den Herrschern bestimmten Zielen dienstbar zu machen. Inwieweit die Argumentation des Buches auch für jene neueren Formen des Sozialismus gilt, die das Ziel sozialer Gerechtigkeit durch eine Vielzahl von Eingriffen in eine grundsätzlich zu erhaltende Marktwirtschaft zu erreichen suchen, hängt davon ab, ob diese Versuche nicht doch, wie ich glaube, früher oder später zu einer Zentralverwaltungswirtschaft führen oder nicht. Nach einer liberalen Periode, die Deutschland einen Aufstieg seines Wohlstands ermöglicht hat, den kaum jemand vorauszusagen gewagt hätte, sind nun unter der Jugend die alten Ideen des Sozialismus wiederauferstanden. Ein Teil der Jugend glaubt wieder, der Freiheit zu dienen, indem er eine Wirtschaftsordnung befürwortet, die tatsächlich die Freiheit des Einzelnen auf das engste beschränken würde. Sie wissen nicht mehr aus eigener Erfahrung, was eine Regierungsform bedeutet, in der die Herrschenden unbeschränkte Macht über alle Mittel ausüben.“

Die Brillanz der schnell erfolgreichen, weil vielfach rezipierten Analyse Hayeks motivierte in England unter anderem auch George Orwell, die verheerenden und freiheitsvernichtenden Auswirkungen wirtschaftspolitscher Totalitarismen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vier Jahre nach Hayek veröffentlichte er seinen bis heute weithin bekannten Roman „1984“. In einer Rezension des Buches „The Road to Serfdom“, die „The Observer“ am 9. April 1944 veröffentlichte, schrieb er: „Professor Hayeks These ist in aller Kürze, dass Sozialismus unvermeidlich zu Despotismus führt und dass die deutschen Nazis in die Lage kamen, Erfolg zu haben, weil die Sozialisten zuvor schon die meiste Arbeit für sie getan hatten, besonders die geistige Arbeit, das Verlangen nach Handlungsfreiheit zu schwächen. Indem der Sozialismus das ganze Leben unter staatliche Kontrolle bringt, überträgt er die Macht zwangsläufig auf einen kleinen Kreis von Bürokraten, die in praktisch jedem Falle Menschen sein werden, die Macht um ihrer selbst willen anstreben und alles daransetzen, sie zu erhalten. Britannien, sagt er, beschreitet nun den gleichen Weg wie Deutschland, mit linker Intelligenzia und einer ihr folgenden Tory Partei. Die einzige Rettung liege in der Rückbesinnung auf eine ungeplante Wirtschaft, freien Wettbewerb und eine Betonung eher von Freiheiten als von Sicherheit.“

Für eine heutige Lektüre des Buches hat man sich zu vergegenwärtigen: Das zentrale Problem der Darstellung – die Unvermeidlichkeit der zwangsweisen Unterdrückung des Einzelnen in einer als perfektionierte Gesamtmaschine verstandenen staatlichen Wirtschaft – wurde dem Ökonomen und Juristen Hayek bereits Mitte der 1930er Jahre immer deutlicher. 1937 blickte die Welt auf eine 20-jährige Empirie des sowjetischen Kommunismus seit der Oktoberrevolution zurück. Gleichzeitig staunte die politische Weltöffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt, dass es den Nationalsozialisten in Deutschland gelungen zu sein schien, mit rücksichtsloser staatlicher Wirtschaftspolitik die fatale Massenarbeitslosigkeit aus den frühen 1930er Jahren zu überwinden. Dass dieser deutsche Scheinerfolg tatsächlich auf Marktmanipulationen und gänzlicher Verachtung privaten Eigentumes beruhte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht für jedermann offensichtlich. Dem analytischen Blick Hayeks hingegen offenbarte sich bereits die fatale Parallele zwischen der kommunistischen und der nationalsozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft. Beide richteten sich gegen persönliche Freiheit und autonome ökonomische Entscheidungen. Anders als der Sowjetkommunismus enteignete der Nationalsozialismus seine Bürger zwar nicht vollends von ihren Produktionsmitteln, sondern er machte ihnen lediglich strenge Vorgaben, mit welchen Einsatzmitteln nun von ihnen welche genauen Ziele zu verfolgen waren. Wer also nicht infolge „völkischer“ Motivation ohnehin von seinem Eigentum getrennt und aus dem Land gejagt wurde, der schien noch Eigentümer zu bleiben, konnte daraus aber keine Rechte oder eigene, freie Handlungsmöglichkeiten herleiten.

Zum Ende der 1930er Jahre war Hayek zunächst noch nicht abschließend klar, wie sich der öffentliche Diskurs zur deutschen Wirtschaftspolitik entwickeln würde. Nachdem sich indes hartnäckig das – teilweise bis in die Gegenwart kolportierte – allgemeine Gerücht verdichtete, im nationalsozialistischen Deutschland herrschte ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, sah Hayek die Notwendigkeit, „The Road to Serfdom“ im Detail auszuformulieren.

In der Einleitung zur Erstausgabe des Jahres 1944 stellte Hayek daher fest: „Nur wenige wollen zugeben, dass der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus nicht als Reaktion gegen die sozialistischen Tendenzen der voraufgegangenen Periode, sondern als die zwangsläufige Folge jener Bestrebungen begriffen werden muss.“

Der Österreicher Hayek formulierte weiter: „Wir werden nie die richtige Einstellung zu den Deutschen gewinnen, solange wir nicht die Eigenart und die Entwicklung der Ideen begriffen haben, von denen sie jetzt beherrscht werden.“ Und er fragte: „Kann man sich eine größere Tragödie vorstellen, als die, dass wir in dem Bestreben, unsere Zukunft bewusst nach hohen Idealen zu gestalten, in Wirklichkeit und ahnungslos das genaue Gegenteil dessen erreicht haben sollten, wofür wir gekämpft haben.“

An diese Einleitung schließt sich die Darstellung des Weges zur Knechtschaft in fünfzehn Kapiteln an.

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Der verlassene Weg | Kapitel 1

Hayek beginnt seine Beweisführung zur Freiheitszerstörung durch den Sozialismus im ersten Kapitel seines Buches mit einer geistes- und wirtschaftshistorischen Lagebeurteilung. Er vergleicht die wirtschaftliche Situation des Arbeiters zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der eines Arbeiters 100 Jahre zuvor.

Die unbestreitbaren Wohlstandszuwächse dieses Zeitraumes in den Haushalten einfacher Arbeiter müssen eine Ursache haben. Die gelte es zu erfassen und zu umschreiben. Hayek verortet die Ursache dieses Prosperierens entscheidend in der Möglichkeit, während dieser Periode – anders als zuvor – individuell frei handeln gekonnt zu haben. „Das Wort Individualismus hat heute einen schlechten Klang, denn man bringt den Ausdruck in Zusammenhang mit Eigennutz und Selbstsucht. Aber Individualismus braucht damit nichts zu tun zu haben. Individualismus ist in der Hauptsache durch die Achtung vor dem Individuum als Menschen gekennzeichnet.“

Respektiert man jeden einzelnen Menschen als freies Individuum, so bleibt dies erwartungsgemäß nicht ohne Konsequenzen für ein vormals starres, gesellschaftlich festgezurrtes System. Diese A-priori-Erwartung bildet sich in der empirisch erkennbaren historischen Entwicklung tatsächlich ab: „Die allmähliche Umwandlung eines starr organisierten hierarchischen Systems in ein solches, in dem die Menschen zumindest versuchen konnten, ihr Leben selber zu gestalten, indem sie die Gelegenheit erhielten, verschiedene Lebensformen zu erforschen und zwischen ihnen zu wählen, ist auf das Engste mit dem Aufblühen des Handels verbunden. Die Erkenntnis, dass die spontane und ungelenkte Betätigung von Einzelwesen ein komplexes und koordiniertes System von Wirtschaftsakten hervorzubringen vermochte, konnte sich erst einstellen, als diese Entwicklung einen gewissen Punkt erreicht hatte. Wenn man im Nachhinein daran ging, die Wirtschaftsfreiheit nun systematisch zu begründen, dann war das der freien Entfaltung des wirtschaftlichen Lebens zu verdanken. Sie war ein unbeabsichtigtes und unerwartetes Nebenprodukt der politischen Freiheit.“ Damit erweist sich Hayek als „Austrian“ im klarsten Sinne, denn er analysiert die spontane, dezentrale Ordnung der Systemschaffung als Ursache ihrer besonders gedeihlichen Funktionsfähigkeit.

Weiter formuliert er: „Das wichtigste Ergebnis, das die Entfesselung der Energien aller Individuen mit sich brachte, dürfte aber wohl die wunderbare Entfaltung der Wissenschaft sein. Erst nachdem die Gewerbefreiheit der Anwendung des neu gewonnenen Wissens freie Bahn verschaffte, konnte die Wissenschaft jene riesigen Fortschritte machen, die das Bild der Welt in den letzten 150 Jahren geprägt haben. Überall, wo die Schranken für die freie Betätigung des menschlichen Genius fielen, eröffnete sich den Menschen dann auch die Möglichkeit, ihre ständig wachsenden Bedürfnisse zu befriedigen. Es steht außer Zweifel, dass diese Erfolge die kühnsten Träume übertrafen, dass der Arbeiter im Abendland zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Grad materieller Wohlfahrt, Sicherheit und persönlicher Unabhängigkeit erreicht haben würde, der ein Jahrhundert früher kaum denkbar erschienen war.“

Das in der Folge indes wesentlichste Problem für das Verständnis dieses empirischen Befundes liegt Hayek zufolge in der Bewertung des Vorganges für künftiges menschliches Verhalten. Denn es scheint dem Beobachter auf der Hand zu liegen, dass der Mensch zwar „Macht über das eigene Schicksal“ und Herrschaft über „die unbegrenzten Möglichkeiten der Verbesserung seiner Lage“ habe. Worin genau aber die letztlich entscheidende Erfolgsursache dafür lag, war dem bloßen Auge nicht ohne Weiteres erkennbar. Im Gegenteil. Menschliche Individuen weiterhin all das tun zu lassen, was ihnen selbst als sinnvoll galt, schien plötzlich für das große Ganze nicht mehr hinreichend offenkundig zweckdienlich: „In den Prinzipien, die diesen Fortschritt in der Vergangenheit ermöglicht hatten, sah man schließlich mehr ein Hindernis für seine Beschleunigung statt einer Vorbedingung für die Erhaltung und Weiterentwicklung des bereits Errungenen.“

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass es gerade die spontane und nicht ferngesteuerte Betätigung kreativer Individuen war, die zur Lageverbesserung geführt hatte, blieb der breiten Analyse verborgen. Es erwuchs die Illusion, vergleichbare Erfolge auch künftig willentlich und nun sogar gezielt fortschreiben zu können. Es bestehe jedoch, formuliert Hayek, „ein himmelweiter Unterschied zwischen der bewussten Schaffung eines Systems und dem passiven Sichabfinden mit den nun einmal bestehenden Einrichtungen“. Hayek bemüht in diesem Zusammenhang das Bild eines Gärtners, „der eine Pflanze pflegt und der zur Schaffung der für sie günstigsten Wachstumsbedingungen möglichst viel über ihren Bau und ihre physiologischen Funktionen wissen muss“. Statt aber zunächst in Demut die Entstehungsvoraussetzungen und Bestehensbedingungen für den eingetretenen Fortschritt und Wohlstand zu ermitteln und grundlegend zu verstehen, schwenkte die bedürfnisgesteigerte Gesellschaft in eine Illusion der zügigen Machbarkeiten um.

In diesem Kontext stellt Hayek jedenfalls 1944 auch klar: Von einem – in heutiger Diktion – „Anarchokapitalismus“ im Sinne eines sich selbst überlassenen, vollends unregulierten Marktgeschehens hielt er nichts. Die bis heute oft kolportierte Einordnung des „Weges zur Knechtschaft“ als des Hoheliedes des Marktradikalismus ist daher definitiv unrichtig. Mehr noch. Hayek sagt vielmehr: „Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner Anhänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laissez-faire.“ Und damit nicht genug. Im Jahre 1944 schien es Hayek noch nicht einmal ausgeschlossen, den „Gärtnern“ der Gesellschaft auch „die Manipulierung des Währungssystems und die Verhütung oder Überwachung von Monopolen“ anzuvertrauen. Die seinerzeitige Vorstellung Hayeks von der Angemessenheit einer neoliberalen Synthese für einen „dritten Weg“ aus ordnungspolitischen Grenzziehungen und einem freien Spiel von akzeptierten Marktkräften scheint – wie marktaffinere Kritiker Hayeks später genau hier monierend angemerkt haben – in diesen Worten deutlich auf.

Zugleich aber diagnostiziert Hayek bereits für die damalige Phase das debattierte Dilemma, Freiheit als Ursache von Wohlstand gegen den Vorwurf mangelnder Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft verteidigen zu müssen: „Der Liberalismus sah sich ständig gezwungen, Vorschläge zu bekämpfen, die den Fortschritt infrage stellten. Schließlich wurde er sogar als ‚negative‘ Doktrin angesehen, da er den einzelnen Individuen wenig mehr zu bieten imstande war als einen Anteil am allgemeinen Fortschritt – einem Fortschritt, der immer mehr als selbstverständlich hingenommen wurde.“

Sein damaliger Befund zum Scheinbesitzstand („Das Erreichte wurde als ein sicherer und unverlierbarer Besitz angesehen, der ein für alle Mal erworben war“) klingt 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches beklemmend vertraut. Auch heute lebt manche Politik erkennbar in der Vorstellung, erreichte Wohlstandsniveaus nicht immer neu erobern zu müssen, sondern sie als unverlierbar voraussetzen zu können.

Im Rahmen seiner geistesgeschichtlichen Einordnung dieser Entwicklung versäumt Hayek nicht, die Mentalitätsunterschiede zwischen einerseits der britischen und andererseits insbesondere der deutschen Befindlichkeit gegeneinander abzugrenzen. Er warnt jedoch als Österreicher in England seine britischen „westlichen“ Mitbürger, das Vereinigte Königreich nicht als dauerhaft gegen Kollektivismen aus dem Osten immunisiert zu betrachten: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tendenzen, die in der Schaffung der totalitären Systeme gipfelten, nicht auf die Länder beschränkt waren, die ihnen erlegen sind. Nun fällt es uns gewiss schwer, Deutschland, Italien oder Russland als Ergebnisse einer geistigen Entwicklung anzusehen, die auch die unsere war. Wir meinen auch heute noch, dass wir uns bis vor ganz kurzer Zeit von Ideen leiten ließen, die man als das Laissez-faire-Prinzip bezeichnet. Schon mindestens ein Vierteljahrhundert, bevor das Gespenst des Totalitarismus bedrohlich wurde, hatten wir uns (aber schon) mehr und mehr von den geistigen Grundlagen, auf denen die europäische Kultur errichtet ist, entfernt. Schritt für Schritt haben wir jene Freiheit der Wirtschaft aufgegeben, ohne die es persönliche und politische Freiheit in der Vergangenheit nie gegeben hat. Obwohl einige der bedeutendsten politischen Denker des 19. Jahrhunderts, wie Tocqueville und Lord Acton, warnend darauf hingewiesen hatten, dass Sozialismus Sklaverei bedeutet, haben wir uns stetig in diese Richtung bewegt.“

Die Gründe für diesen Epochenbruch sah Hayek in einer zeitgeschichtlichen Dominanz des geistigen Einflusses deutscher Denker auf das europäische Denken. Nach dem Jahre 1870 seien die vorherigen freiheitlichen Philosophien Englands in die Defensive gerückt: „England wurde zu einem geistigen Einfuhrland.“ Übersehen wurde, dass Deutschland trotz seiner großen Wohlstandssteigerungen und des außerordentlichen Rufes seiner Gelehrten weltweit bereits in den gefährlichen Griff des Sozialismus geraten war: „Die meisten neuen Ideen und besonders der Sozialismus stammten zwar nicht aus Deutschland, aber dort wurden sie vervollkommnet. Man denkt nicht mehr daran, dass Deutschland ein Menschenalter, bevor der Sozialismus bei uns zu einem ernsten Problem wurde, eine starke sozialistische Partei im Reichstag sitzen hatte.“ Viele Menschen rund um den Erdball glaubten, es könne den Deutschen gelingen, die Abläufe in ihrer Gesellschaft ebenso willentlich zu gestalten, wie sie ihre Maschinen ingenieurtechnisch perfektionierten.

Mit dieser Analyse beschließt Hayek das erste Kapitel und leitet über zur Frage nach der großen Illusion, der er als Motto den Satz Hölderlins voranstellt: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

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Die große Illusion | Kapitel 2

Lassen die Mitglieder einer Gesellschaft nicht zu, dass Einzelne in ihrer Mitte das tun, was sie persönlich für richtig halten, sondern erteilen sie einander Befehle zur Verhaltensregelung, dann schwindet zwangsläufig die Entscheidungsfreiheit des Individuums. Der einzelne Mensch kann in dieser gesellschaftlichen Organisationsgestalt für sich und mit den Menschen, die ihm lieb und teuer sind, nicht mehr unabhängig und selbstbestimmt handeln. Er ist auf Erlaubnisse und Genehmigungen Fremder, auf Gestattungen und Vorgaben anderer zurückgeworfen.

Will man eine Gesellschaft wie eine ingenieurtechnisch perfekte Maschine gestalten, um zentral vordefinierte Ziele zu erreichen, dann ist es unmöglich, den Teilen dieser Maschine individuelle Selbstverantwortung zu überlassen. Ein Zahnrad in einem großen Getriebe muss dann vielmehr genau die Form erhalten und behalten, die zum Betrieb der einmal konzi­pierten Gesamtheit erforderlich ist. Jedes einzelne Zahnrad muss sich darüber hinaus aber auch in der für die Gesamtmaschine erforderlichen Weise bewegen. Eine eigene Ausdehnung oder autonome Bewegungsentscheidungen sind für jedes einzelne Zahnrad ausgeschlossen.

Die von Hayek als „große Illusion“ bezeichnete Erwartung, der Kampf gegen das Ancien Régime und für die Freiheit könne in einer sozialistischen Gesellschaftsmaschine zu Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten des Individuums führen, muss also zwangsläufig enttäuscht werden. In einem sozialistischen Gesellschaftsgetriebe hat der Einzelne (wieder wie in den alten Zeiten des Adels und der Kirchenmacht) fremdgesteuert zu funktionieren. Verweigert er diesen Gehorsam, hat er Konsequenzen entgegenzusehen. Hayek formuliert: „Heute erinnert man sich nur selten daran, dass der Sozialismus in seinen Anfängen unverhüllt autoritär war. Der erste moderne Planwirtschaftler, [Henry de] Saint-Simon [1760–1825], sagte sogar voraus, dass man diejenigen, die seinen projektierten Plan­wirt­schafts­stellen den Gehorsam verweigerten, ‚wie Vieh behandeln‘ würde.“ In dieser Dimen­­sion wird unzweifelhaft deutlich, warum Hayek seinem zweiten Kapitel den Satz Friedrich Hölderlins vom Staat als „Hölle“ voranstellte.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brach sich bei den Frühsozialisten augenscheinlich die Erkenntnis Bahn, dass es einen argumentativen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Gesamtplanung und individueller Freiheit gibt. Die Revolution des Jahres 1848 entwickelte daher den Gedanken, die Idee des Sozialismus mit einem leicht abweichend definierten Freiheitsbegriff zu verbinden. In diesem Zusammenhang zitiert Hayek Alexis de Tocqueville [1805–1859]: „Die Demokratie dehnt die Sphäre der individuellen Freiheit aus, der Sozialismus dagegen schränkt sie ein. Die Demokratie erkennt jedem Einzelnen seinen Eigenwert zu, der Sozialismus degradiert jeden Einzelnen zu einem Funktionär der Gesellschaft, zu einer bloßen Nummer. Demokratie und Sozialismus haben nur ein einziges Wort gemeinsam: die Gleichheit. Aber man beachte den Unterschied: Während die Demokratie die Gleichheit in der Freiheit sucht, sucht der Sozialismus sie im Zwang und in der Knechtung.“

Die begriffliche Umdeutung geschah dadurch, dass das ursprüngliche Versprechen der Freiheit von Despoten nun zur Verheißung einer Befreiung aus dem „Reich der Notwendigkeit“ werden sollte. In heutiger Diktion sagt man wohl: Liberalismus liefere nur negative Freiheit, Sozialismus hingegen schaffe die nötigen materiellen Grundlagen für positive Freiheit. Dass diese materiellen Grundlagen aber erst von irgendjemanden geschaffen werden müssen, um dann umverteilt werden zu können, wird in dieser Weltsicht seit bald 200 Jahren vergessen. Hayek formuliert: „Wenn man also die neue Freiheit forderte, so meinte man damit nichts anderes als den alten Anspruch auf gleichmäßige Besitzverteilung. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Versprechen einer größeren Freiheit eine der wirksamsten Waffen der sozialistischen Propaganda geworden ist.“

Zum weiteren empirischen Nachweis seiner argumentativen Überlegungen zitiert Hayek den langjährigen amerikanischen Korrespondenten William H. Chamberlin [1897–1969], der im Jahre 1937 auf zwölf Jahre eigener Arbeit in Russland zurückblickend notierte: „Es ist sicher, dass der Sozialismus sich wenigstens im Anfang als ein Weg erweist, der nicht zur Freiheit, sondern zur Diktatur und Gegendiktatur und zum erbarmungslosen Bürgerkrieg führt. Ein Sozialismus, der mit demokratischen Mitteln erkämpft und erhalten wird, scheint endgültig zu den utopischen Dingen zu gehören.“ Und der legendäre amerikanische Publizist Walter Lippmann [1889–1974] wird von Hayek mit der Erkenntnis zitiert: „In dem Maße, wie [kollektiv] organisierte Lenkung zunimmt, muss die Vielfalt der [individuellen] Ziele der Gleichförmigkeit weichen. Das ist die Nemesis der Planwirtschaft.“

Wie sehr sich die autoritären Systeme des Kommunismus, des nationalen Sozialismus und des Faschismus im stets systematisch freiheitszerstörenden Fremdbestimmungsreflex auch weltanschaulich gleichen, macht ein weiterer Blick auf die Propagandaaktivitäten der entsprechenden Parteigänger klar: „Es war in Deutschland allgemein bekannt, dass ein junger Kommunist verhältnismäßig leicht zum Nationalsozialisten bekehrt werden konnte und umgekehrt; am besten wussten dies die Propagandaleiter der beiden Parteien. Während für die Nationalsozialisten der Kommunist, für die Kommunisten der Nationalsozialist und für beide der Sozialist als Rekrut infrage kam als ein Mann, der aus dem rechten Holz geschnitzt war, wenn er auch auf falsche Propheten gehört hatte, so wussten sie doch beide, dass es zwischen ihnen und denen, welchen es mit dem Glauben an die Freiheit wirklich ernst war, keinen Kompromiss geben konnte.“

Das planwirtschaftliche Mantra des deutschen Nationalsozialismus wurde von dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Eduard Heimann (1889–1967), der sich die Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, in die von Hayek zitierten Worte gefasst. „Das Hitlersystem geht sogar so weit, sich zum Beschützer des Christentums aufzuwerfen, und das Grauenvolle ist, das selbst diese grobe Verdrehung geeignet ist, einen gewissen Eindruck zu machen. Aber eines ist in all diesem Meer des Irrtums sonnenklar: Hitler hat nie den Anspruch erhoben, den echten Liberalismus zu vertreten. So genießt der Liberalismus die Auszeichnung, die von Hitler bestgehasste Lehre zu sein.“

In seiner Analyse schließt Hayek das zweite Kapitel seiner Ausarbeitung folgerichtig mit der Erkenntnis: „Während vielen, die die Entwicklung vom Sozialismus zum Faschismus aus nächster Nähe beobachtet haben, der Zusammenhang zwischen beiden Systemen immer klarer geworden ist, sind in England heute noch die meisten Leute der Meinung, dass Sozialismus und Liberalismus miteinander vereinbar seien. Ohne Zweifel glaubt die Mehrzahl der Sozialisten bei uns noch immer fest an das liberale Freiheitsideal und würde entsetzt sein, wenn sie zu der Überzeugung käme, dass die Verwirklichung ihres Programms die Vernichtung dieser Freiheit bedeuten würde.“

Nach dieser Problemausbreitung folgt nun – im dritten Kapitel – die Betrachtung des unvermeidlichen Widerstreits zwischen einerseits individueller Freiheit und andererseits kollektiver Organisation.

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Individualismus und Kollektivismus | Kapitel 3

Das dritte Kapitel seiner Wegbeschreibung in die Knechtschaft beginnt Hayek mit einer Begriffsanalyse des Sozialismus. Er stellt fest, dass schon das Wort selbst für diskursive Verwirrung sorgt. Während einerseits die Ziele des Sozialismus – das heißt seine Ideale – allgemein konsensfähige Inhalte beschreiben, enthält seine Benennung andererseits auch eine Beschreibung der Methoden zur Erreichung dieser Ziele. Wer also „Sozialismus“ sagt, der kann sich sowohl auf das „Was“ der Sache als auch auf das „Wie“ ihrer Realisierung beziehen.

Während als Ideale des Sozialismus Umstände wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Sicherheit gelten, beziehen wir uns umgekehrt bei der Beschreibung seiner Methoden auf die Abschaf­fung der Privatunternehmen und des Privateigentums an Produktionsmitteln, um an deren Stellen ein zentrales, geplantes Kommandowirtschaftssystem durch eine Behörde zu setzen.

Kritiker des Sozialismus weisen stets darauf hin, dass gerade diese Methoden zur Verwirk­lichung der Ziele fragwürdig seien. Die Verteidiger der sozialistischen Idee halten den Kritikern umgekehrt entgegen, dass sie die Zielvorstellungen des Sozialismus nicht gutheißen wollten. Diese Verwirrung der Debatte sorgt offenkundig bis heute für immer wieder typische Streitigkeiten unter Diskursteilnehmern.

Hayek sieht aber noch weiteres Verwirrungspotenzial. Das „Hauptinstrument der sozialis­tischen Reform“ ist eben die Methodik der Planwirtschaft. Mit einer solchen rationalen Planung hoffen Sozialisten einer missliebig unkontrollierten – und also auch mindestens in ihren Ergebnissen ungerechten – „Profitwirtschaft“ begegnen zu können. Die gleichmäßige Versorgung aller Bürger solle daher durch eine wohlorganisierte, gerechte „Bedarfs­deckungs­wirtschaft“ ersetzt werden.

Im Kontext zu der Klarstellung des vorangegangenen Kapitels über die „große Illusion“, dass der Einzelne in der staatlichen Gesamtmaschine Freiheit finden könnte, stellt Hayek hier historisch-empirisch nüchtern fest: „Man muss ferner beachten, dass gerade der Sozialismus die liberal Gesinnten dazu gebracht hat, sich aufs Neue genau jener Reglementierung ihres Wirtschaftslebens zu unterwerfen, der sie ein Ende gemacht hatten, weil sie – um mit Adam Smith zu reden – Regierungen in die Lage bringt, ‚in der sie aus einer Selbsterhaltung zu Unterdrückung und Tyrannei greifen müssen‘.“ Anders gesagt: Die Gesellschaft floh vor den Befehlen des vormals tonangebenden Adels und findet sich nun inmitten der Befehle einer sozialistischen Planungskaste wieder. Sie ist also nur vom Regen in die Traufe gekommen.

Eine weitere kognitive Schwierigkeit bei der diskursiven Erörterung dieser sozialistischen Dysfunktionalität liegt in den schlicht kontraintuitiven Dimensionen des Planungsbegriffs selbst: „Das Wort ‚Planung‘ verdankt seine Beliebtheit zum großen Teil der Tatsache, dass wir natürlich alle unser Leben so rational wie möglich gestalten möchten und dass wir dabei so viel Voraussicht walten lassen, wie es uns nur irgend möglich ist. Insoweit ist jeder, der nicht ein völliger Fatalist ist, ein Planwirtschaftler. Aber dies ist nicht der Sinn, in dem diejenigen, die sich für eine geplante Gesellschaft begeistern, den Begriff heute verwenden. Was unsere heutigen Planer verlangen, ist die zentrale Lenkung jeder wirtschaftlichen Tätigkeit nach einem einzigen Gesamtplan.“

Nach diesen klarstellenden Differenzierungen ist der Boden für die Erkenntnis bereit, dass es für menschliches Handeln schlicht nicht um die Frage geht, ob überhaupt geplant wird, sondern vielmehr darum, wie geplant wird und – vor allem – wer der Planer ist.

Hayek zeigt sich an dieser Stelle seiner Werkentwicklung durchaus als Vertreter einer Auffassung, die staatlichen Akteuren vertrauensvoll entscheidende Rahmensetzungsaufgaben zuweist. Der Liberalismus lehre nämlich nicht, dass Bürger alle Dinge sich selbst überlassen sollten. Er verlange vielmehr, „dass ein sorgfältig durchdachter rechtlicher Rahmen die Vorbedingung für ein ersprießliches Funktionieren der Konkurrenz“ sein solle. Denn der Liberalismus halte das Konkurrenzprinzip in der Wirtschaftsaktivität von Menschen der fremdbestimmten Planung gerade deswegen für überlegen, weil es „die einzige Methode ist, die uns gestattet, unsere wirtschaftliche Tätigkeit ohne einen zwangsweisen oder willkürlichen Eingriff von Behörden zu koordinieren“. Der Wettbewerb als Ordnungsprinzip einer Gesellschaft erfordere daher durchaus bestimmte Arten staatlicher Aktivität. Der Wettbewerb als solcher müsse gesichert werden. Dies setze angemessene staatliche Rahmensetzung voraus: „Kein vernünftiger Mensch kann sich ein Wirtschaftssystem vorstellen, in dem der Staat ganz untätig ist.“

Das Ziel dieser staatlichen Rahmensetzungen muss jedoch nach der Beschreibung Hayeks stets darauf ausgerichtet sein, ein freies Wirtschaftssystem zu ermöglichen und abzusichern.

Wörtlich: „Einmal ist es nötig, dass die Beteiligten zu jedem Preis kaufen und verkaufen dürfen, zu dem sie einen Vertragspartner finden, und dass – wenn überhaupt irgendetwas produziert, gekauft oder verkauft werden darf – dies jedermann erlaubt sein muss. Ferner ist wesentlich, dass die unterschiedlichen Erwerbszweige allen zu gleichen Bedingungen offenstehen und dass das Recht sich jedem individuellen oder kollektiven Versuch widersetzt, die Gewerbefreiheit offen oder verdeckt gewaltsam zu beschränken. Jeder Versuch, Preise oder Mengen bestimmter Produkte zu regulieren, vereitelt eine befriedigende Koordination der Wirtschaftstätigkeit durch individuellen Wettbewerb, da Preisänderungen in diesem Fall nicht mehr die wesentlichen Datenänderungen registrieren und einzelnen Akteuren somit keine zuverlässigen Koordinationspunkte für ihre Wirtschaftstätigkeit liefern.“

Hat sich ein überreguliertes Wirtschaftssystem aber einmal in seinen Koordinationsbemühungen durch die Planer verheddert, fährt es sich fest: „Ist einmal dieses Stadium erreicht, so bleibt außer der Rückkehr zum Wettbewerb nur noch die Möglichkeit der Monopolüberwachung durch den Staat und wenn diese Überwachung wirkmächtig werden soll, so muss sie mit der Zeit immer umfassender und immer kleinteiliger werden.“ Die Ursache, dass staatlich koordinierte Wirtschaftssysteme in diesen fatalen Zustand hineinlaufen, sieht Hayek wesentlich darin, dass „die meisten Leute immer noch glauben, es müsse möglich sein, irgendeinen ‚Mittelweg‘ zwischen ‚atomistischem‘ Wettbewerb und zentraler Steuerung zu finden“. Genau hier aber mahnt Hayek zu regulatorischer Zurückhaltung. Denn wenn zwei sich wechselseitig ausschließende Prinzipien zur Lösung desselben Problems miteinander vermischt werden, dann kann keines von beiden noch funktionieren. Im Mittelpunkt müsse stehen, Planung zum Zwecke der Ermöglichung und des Erhaltes von wirtschaftlichem Wettbewerb zu betreiben, nicht aber Planung gegen den Wettbewerb.

Aus heutiger Sicht – 80 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Werkes – wird deutlich, mit welchen aktuellen Illusionen dieser immerwährende Streit zwischen angemaßter staatlicher Wirtschaftssteuerung und freier Marktentfaltung ausgetragen wird. Die Sehnsucht, Märkte planvoll in gerechte (und, wie es heute en vogue ist, ökologisch idealisierte) Bahnen lenken zu wollen, scheint inzwischen durch Digitalisierung und Totalüberwachung aller Akteure in greifbare Nähe gerückt zu sein. Doch auch in dieser Gestalt kollidieren wieder die Rigidität einer um Kontrolle bemühten Steuerungszentrale und die unbeherrschbare Buntheit der Realität in menschlicher Handlungsvielfalt. Welche Auswirkungen das für den Einzelnen hat, betrachtet Hayek im Folgekapitel.

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Die angebliche Zwangsläufigkeit der Planwirtschaft | Kapitel 4

Das vierte Kapitel liefert in seinem Kern die ökonomische Dekonstruktion einer scheinplausiblen gesellschaftspolitischen Position durch Rationalisierung ihrer (zugestandenermaßen: zunächst kontraintuitiven) Gegenposition. Hayek stellt dem Kapitel ein Zitat voran, das – obgleich inzwischen fast 100 Jahre alt – bis heute nichts von der verführerischen Kraft seiner bei flüchtigem Blick überzeugenden Evidenz verloren hat: „Wir waren die Ersten, die erklärt haben, dass die Freiheit des Individuums umso mehr beschränkt werden muss, je komplizierter die Zivilisation wird.“

Führt man dieses Zitat in eine beliebige Erörterung ein, wird man mit sehr hoher Sicherheit für das darin liegende Argument zunächst immer wieder schnell Zustimmung zu ernten. Doch in der Scheinplausibilität der Erwägung und in der gerade durch sie bewirkten bereitwilligen Akzeptanz des vorgestellten Prinzips liegt leider die Ursache jener gesellschaftlichen Gewalt, die das Argument in der Geschichte immer wieder mit fatalen Konsequenzen entfaltet: Ja, der Einzelne muss sich in der Tat bei der wachsenden Ausdifferenzierung der Zivilisation in eine immer unübersichtlicher werdende, hocharbeitsteilige, hyperkomplexe Weltsituation mit erheblicher Anpassungsfähigkeit einfügen. Je simpler die Umstände, desto geringer die Adaptionsanforderungen; je verworrener die Gesellschaft, desto schwieriger das Anpassen. Aber die herausfordernde Leistung, sämtliche nötigen Adjustierungen an situativ immer neue Lagen meistern zu können, muss unausweichlich von einem handelnden Subjekt erbracht werden. Das Einfügen in die jeweilige Lage zur Beherrschung der konkreten Situation erfordert also, diese Lage sinnlich zu erkennen, sie gedanklich zu begreifen, sie mit den gegebenen (eigenen und fremden) Zielstellungen abzugleichen, die eigenen tatsächlichen Einflussmöglichkeiten abzuschätzen, den eigenen Einfluss dann wirklich auszuüben, die Auswirkungen daraus zu beobachten und alles anschließend weitere Agieren in die Dynamik der sich konsequent fortentwickelnden Umstände einzuweben.

Dieser Geschehensablauf aus Kognition und Reaktion, aus Lageanalyse und bewusst gewolltem zielgerichteten Eingreifen in die Welt kann schlechterdings nicht sinnvoll aus einer ortsfernen, selbst unbeteiligten Zentrale bewerkstelligt werden, sondern – soll es effektiv und effizient zugehen – eben nur von demjenigen Subjekt, das fern der Zentrale in der jeweils gegebenen, einzigartig peripheren Handlungsherausforderung steht. Je verworrener die Gesamtumstände werden, desto individueller wird also auch die Aufgabe, sie zu meistern. Jedes ferne, persönlich unbeteiligte abstrakte „Wir“ muss angesichts dieser Schwierigkeiten scheitern.

Durch diese Vorüberlegungen wird nun klar, warum das Zitat, demzufolge die individuelle Freiheit „beschränkt werden muss“, in der realen Welt stets fehlgeht. Denn die Freiheit kann eben an dieser Stelle nicht sinnvoll von einer steuernden Instanz willentlich beschränkt und erfolgreich geleitet werden. Die individuelle Freiheit wird vielmehr durch die gleichsam chaotischen Umstände einer komplexen Gesellschaft selbst ungeplant beschränkt und muss in dieser Lage die Problemlösung selbst bewerkstelligen. Dies kann kein fernes „Wir“ mit Erfolg leisten, sondern nur dasjenige individuelle Subjekt, das in der betreffenden Situation steht. Dass ausgerechnet der italienische Diktator Benito Mussolini der Urheber jener eingangs zitierten zentralplanerischen Scheinklugheit aus dem Jahre 1929 ist, kann also nicht erstaunen: Die faschistische Illusion, Menschen seien gedeihlich wirkmächtiger, wenn man sie zu Rutenbündeln verschnürt, verwechselt Größe mit Kraft und Gewalt mit Zielgenauigkeit.

Aus der Sicht seines Publikationsjahres 1944 stellte sich Hayek daher eine diskursive Situation dar, in der man den kleinteilig kreativen Wettbewerb unter verschiedenen individuellen Konkurrenten – gemäß der marxistischen Theorie über die „Konzentration des Kapitals“ – für überwunden hielt: „Die angebliche technische Ursache für das Anwachsen des Monopolismus soll die Überlegenheit des Großbetriebs über den Kleinbetrieb sein“. Denn „der Vorteil der Massenproduktion (liege) unweigerlich in der Beseitigung des Wettbewerbs“. Hayek erklärte, dass diese Konzentrationsthese nicht überzeugend ist. Empirisch zeichnete er nach, wie insbesondere die deutsche Volkswirtschaft ab dem Jahre 1878 systematisch eine bewusste Bildung von Riesenmonopolen durch Staatssubventionen betrieben hatte: „Wenn die Deutschen und alle Völker, die ihr Beispiel nachahmen, sich immer mehr einer totalen Planwirtschaft verschreiben, so folgen sie nur der Linie, die einige Denker des 19. Jahrhunderts, vor allem in Deutschland, ihnen vorgezeichnet haben.“

Tatsächlich aber ist Hayeks Erkenntnis zufolge ein freier, suchender Wettbewerb unter kreativen Individuen jeder zentralen Planung ausgerechnet dort überlegen, wo die Lage definitiv unübersichtlich wird: „Weit entfernt davon, nur auf relativ einfache Verhältnisse anwendbar zu sein, wird der Wettbewerb gerade durch die Verwickeltheit der modernen Arbeitsteilung zur einzig brauchbaren Koordinierungsmethode. In dem Maße, wie die Faktoren, die zu berücksichtigen sind, so zahlreich werden, dass man die Übersicht verliert, wird Dezentralisierung notwendig. Aber ist diese Dezentralisierung einmal geboten, dann taucht das Problem der Koordinierung auf. Jene Koordinierung, die es einzelnen Wirtschaftsteilnehmern erlaubt, ihre Tätigkeit denjenigen Gegebenheiten, die gerade nur sie selber erkennen können, anzupassen, wodurch gerade nach allen Seiten eine Abstimmung der individuellen Pläne möglich wird. Weil diese Dezentralisierung also notwendig geworden ist, liegt auch auf der Hand, dass die Koordinierung nicht durch eine ‚bewusste Überwachung‘ verwirklicht werden kann. Da nämlich niemals alle Einzelumstände einer einheitlichen Zentrale bis in das Letzte bekannt sein und die Daten von ihr nicht schnell genug erfasst und verarbeitet werden können, braucht es einen (scilicet: dezentralen) Funktionsmechanismus, der automatisch alle bedeutsamen Wirkungen und individuellen Handlungen aufzeichnet. Aus ihm ergeben sich dann die Wirkung und die Ursache aller weiteren individuellen Entscheidungen. Und dies ist genau die Aufgabe, die in einem Wettbewerbssystem der Preismechanismus erfüllt.“

Rückblickend auf die zu diesem Zeitpunkt historisch gewachsene Ausdifferenzierung der Volkswirtschaften wagt Hayek die These, dass „wenn wir für die Entwicklung unserer Wirtschaftsordnung bewusst auf Zentralplanung angewiesen gewesen wären, sie niemals jenen Grad der Differenzierung, Komplexität und Elastizität hätte erreichen können, der tatsächlich zu beobachten ist“. Aber Hayek geht hier sogar noch einen Schritt weiter. Er webt in seine Erkenntnis eine ernste Mahnung ein: „Wird das Wirtschaftssystem noch komplexer, dann wird nicht etwa eine zentrale Steuerung, sondern die Anwendung einer Koordinierungsmethode, die gerade nicht auf eine solche bewusste Lenkung angewiesen ist, zur, zwingenden Notwendigkeit.“ Diese Weichenstellung werde dann für Gesellschaften „geradezu zu einer Lebensfrage“.

Während also – wie man es heute wohl nennen würde – die damalige ökonomische Debatte die Effizienzgewinne aus industriellen Skaleneffekten als den Sieg (staatlicher) Gesamtplanung über den kleinteiligen Wettbewerb missverstand, plädierte Hayek bereits dafür, in allen volkswirtschaftlichen Kontexten hinreichende Spielfelder für Überraschungen zur freien Entwicklung zu reservieren: „Das Argument zugunsten der Freiheit ist, dass wir einen gewissen Spielraum für das nicht vorauszusehende spontane Wachstum reservieren sollten.“

Hayek findet in diesem Kontext auch eine plausible Erklärung dafür, warum gerade Experten so oft dem Gedanken einer staatlichen Gesamtplanung huldigen. Das Phänomen hängt in seiner Analyse „eng mit der wichtigen Tatsache zusammen, dass fraglos fast jedes einzelne der technischen Ideale unserer Fachleute in verhältnismäßig kurzer Zeit verwirklicht werden könnte, wenn genau nur seine [singuläre] Verwirklichung zum einzigen Ziel der [ganzen] Menschheit erklärt würde“. Statt aber über „die herrlichen Autostraßen in Deutschland und Italien“ als Produkt staatlicher Planwirtschaft zu schwärmen, sollte man sich zugestehen, „dass solche auf die Spitze getriebene technische Vollkommenheit, die zu den allgemeinen Lebensbedingungen in Widerspruch steht, letztlich nur die Fehlleitung der Produktionsmittel beweist“. Aus genau diesem Grunde werden just jene Menschen, die am meisten von der Planwirtschaft begeistert sind, zur größten Gefahr des innergesellschaftlichen Friedens, wenn man sie gewähren lässt. Denn Hayek beobachtete in ihnen die „intolerantesten Gegner der Planwirtschaft eines jeden anderen“. Und diese denknotwendig zwangsläufige wechselseitige Intoleranz aller Freunde des Gesamtplanprinzips bleibt dann auch nicht ohne Auswirkung auf die emotionalen Befindlichkeiten der Beteiligten: „Von der Hingabe und Einseitigkeit des Idealisten zum Fanatismus ist oft nur ein einziger Schritt.“

Mit diesen Darstellungen ist das thematische Feld bereitet, um sich in den drei folgenden Kapiteln mit dem Phänomen der Planwirtschaft in ihrem Verhältnis zu Demokratie, zu Rechtsstaat und zu Totalitarismus zu befassen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf „freiheitsfunken.info“ der Freiheitsfunken AG.

Planwirtschaft und Demokratie | Kapitel 5

Der vielleicht beste gedankliche Zugang, um den Widerspruch zwischen staatlicher Gesamtplanung und Demokratie zu erkennen, liegt in einer Metapher, die Hayek am Rande seiner Darstellungen über Planwirtschaft und Demokratie verwendet: „Wenn Menschen dahin übereinkommen, dass es eine zentrale Planwirtschaft geben muss, [wenn aber gleichzeitig unter ihnen] über die Ziele verschiedene Ansichten herrschen, dann läuft das praktisch auf dasselbe hinaus, wie wenn eine Gruppe von Personen zu einer gemeinsamen Reise aufbricht, ohne sich zuvor über das Reiseziel geeinigt zu haben.“ Dies habe naturgemäß zur Folge, dass alle Beteiligten zuletzt eine Reise unternähmen, die viele – wenn nicht die meisten von ihnen – überhaupt nie angetreten hätten.

Hayek weiter: „Dass Planwirtschaft zu einer Situation führt, in der wir uns über weit mehr Punkte einigen müssen, als wir es gewohnt sind, und dass wir in einem planwirtschaftlichen System die gemeinsame Arbeit nicht auf Tätigkeiten beschränken können, zu denen Übereinstimmung erzielt werden kann, sondern dass wir zuletzt genötigt sind, sie in allem und jedem zu erzwingen, damit überhaupt eine Aktion unternommen werden kann, das ist eines der Merkmale von Planwirtschaft, das mehr als alle anderen ihr Wesen bestimmt.“

Bleibt man bei dem Bild einer Reise, so liegt auf der Hand, dass eine freiheitliche Gesellschaft ihren Mitgliedern nicht nur freistellt, wohin sie reisen möchten. Insbesondere kennzeichnet es eine solche Gesellschaft auch, dass sie weder jemanden zwingt, überhaupt eine Reise anzutreten, noch dass sie jemandem vorgibt, mit wem er zu reisen hat. Diese Freiheiten kann aber ein solches Gemeinwesen nicht zulassen, das zentral darauf ausgerichtet ist, alle seine Mitglieder einem einheitlichen (Reise-) Ziel zuzuführen.

Allen kollektivistischen Systemen wohnt nun die Grundidee inne, sämtliche verfügbare Arbeitskraft zu einem bestimmten sozialen Zweck bewusst organisieren zu müssen: „Die verschiedenen Spielarten des Kollektivismus unterscheiden sich voneinander durch das Ziel, auf das sie die Produktionstätigkeit der Gesellschaft richten wollen. Sie haben aber alle miteinander gemeinsam, dass sie – im Gegensatz zu Liberalismus und Individualismus – die Gesellschaft als Ganzes mit sämtlichen ihren Produktivkräften für dieses einzige Ziel organisieren wollen.“

Autonome Sphären des Individuums, in denen persönliche Wünsche Vorrang haben, müssen in solchen staatlichen Plankontexten unberücksichtigt bleiben. Denn: „Das ‚soziale Ziel‘ oder der ‚Gesamtzweck der Volkswirtschaft‘, für den die Gesellschaft [kollektiv] organisiert werden soll, wird üblicherweise nur unbestimmt bezeichnet als das ‚gemeine Beste‘ oder das ‚Gemeinwohl‘ oder das ‚Gemeininteresse‘. Man braucht nicht viel nachzudenken, um zu sehen, dass diese Ausdrücke viel zu allgemein gehalten sind, um einen bestimmten wirtschaftspolitischen Kurs zu bezeichnen.“

Um noch einmal die Metapher der Reise zu bemühen: In einer kollektiv organisierten Struktur verabredet man sich anfangs gemeinsam nur, um einen „schönen Ort“ oder eine „angenehme Landschaft“ aufzusuchen. Ob diese in den Bergen, an einem See, in der Wärme oder in der Kühle gelegen ist, wird nicht konkret verabredet. Die letzte Bestimmung darüber, wohin genau die Reise gehen wird, kann nämlich – wegen der Vielzahl unterschiedlicher Reisesehnsüchte aller Beteiligten – niemals einvernehmlich getroffen werden. Selbst wenn nur eine (knappe) Mehrheit über das exakte Ziel tatsächlich Konsens erzielt, haben sich auch alle Mitglieder der Minderheit in diesem Fall gegen ihren eigenen Willen dieser Reise anzuschließen. Mehr noch: Um sie durchführen zu können, müssen nun alle Mitglieder der Gemeinschaft dazu veranlasst werden, sich in einer Weise zu verhalten, die der angezielten Richtung mit vielerlei Hilfs- und Nebentätigkeiten am besten dient. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein Beteiligter bei einem solchen Gesamtunternehmen zuletzt noch eine Tätigkeit ausübt, die überwiegend mit dem übereinstimmt, was er selbst je freiwillig hätte tun wollen, liegt praktisch bei null.

Was im Bild der Reise die gut vorstellbare individuelle Präferenz darüber ist, ob ein Mensch lieber durch einen Bergwald spaziert oder an einem Strand schwimmen geht, wird im gesamtgesellschaftlichen Kontext insgesamt zur Frage nach den unterschiedlichen Wertpräferenzen und ihrer Harmonisierung unter Gesellschaftsmitgliedern nach allgemein akzeptierten Regeln. Hayek: „In unserer Gesellschaft gibt es weder Anlass noch Grund dafür, dass sich alle Menschen übereinstimmende Ansichten darüber bilden, was jeder in der einen oder der anderen Lage tun soll. Aber da, wo alle Produktionsmittel [staatliches] Kollektiveigentum geworden sind und im Namen der Allgemeinheit nach einem einzigen einheitlichen Plan verwendet werden sollen, da muss eine ‚kollektive‘ Orientierung der wirtschaftlichen Aktivität sämtliche Entscheidungen vorgeben. In einer solchen Welt wird man bald feststellen, dass unser Moralkodex voller Lücken ist.“

Es lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass Menschen, die sich voneinander durch ihre vielfältigen Persönlichkeiten unterscheiden, keine insgesamt einheitliche und allumfassende Wertskala haben können: „Es überstiege Menschenkraft, die unendliche Mannigfaltigkeit der verschiedenen Bedürfnisse aller unterschiedlichen Menschen, die sich verfügbare Produktionsmittel teilen müssen, zu erfassen.“ Um dieses Koordinationsproblem für ein gedeihliches Zusammenwirken in einer Gesellschaft moralisch vertretbar lösen zu können, schlagen der Liberalismus und die Philosophie des Individualismus vor, den freien Willen eines jeden Einzelnen in möglichst umfassendem Sinne zum Gegenstand seines Respektanspruches allen anderen gegenüber zu erküren.

„Dies ist die Grundlage, auf der die ganze Philosophie des Individualismus beruht. Sie nimmt nicht – wie oft behauptet wird – an, dass der Mensch egoistisch ist oder es sein sollte. Sie geht vielmehr nur davon aus, dass die begrenzte Phantasie eines jeden einzelnen Menschen ihm nicht erlaubt, in seine Wertskala mehr als einen ihm überschaubaren Bereich gesamtgesellschaftlicher Bedürfnisse aufzunehmen. Daraus zieht der Individualist den Schluss, dass es jedem Individuum freistehen sollte, innerhalb bestimmter Grenzen nach eigenen Wertvorstellungen und Neigungen zu leben, statt nach denen anderer. Diese Anerkennung des Individuums als des obersten Richters über seine eigenen Ziele bildet den Wesensgehalt des Individualismus.“

„Soziale Ziele“ sind in diesem Begriffsrahmen also jene Ziele, die von einer Vielzahl von Individuen unabhängig voneinander, aber parallel identisch angestrebt werden. Ihr gemeinsames Handeln erstreckt sich somit lediglich auf jene Gebiete, auf denen unter den Handelnden Konsens über die (gemeinsame) Zielverfolgung herrscht. Ob das je gemeinsam verfolgte Ziel dabei das endgültige eines Akteurs ist oder nur sein individuelles Zwischenziel, um anschließend alleine oder mit anderen Menschen noch ganz neue, weitergehende und abweichende Zwecke zu erreichen, wird in diesem Kontext bedeutungslos: „Sehr oft werden solche gemeinsamen Ziele nicht das jeweils letzte Ziel eines jeden Individuums sein, sondern sie sind oft nur Mittel, die verschiedene Personen dann wiederum ihren verschiedenen individuellen Zwecken weiter dienstbar machen können.“

Damit wird klar, dass das entscheidende Kriterium allen gemeinsamen Handelns in einer freiheitlichen Gesellschaft die Einigung der Beteiligten über ihren Kooperationswillen sein muss. Niemand wird hier gezwungen, sich an einer bestimmten Reise zu beteiligen, sondern jedem steht frei, sich einer Reisegesellschaft – vielleicht auch nur vorübergehend – anzuschließen, um sein eigenes Reiseziel zu erreichen, sofern alle übrigen Mitreisenden nur auch ihrerseits damit einverstanden sind, dieses Reiseteilstück gemeinsam zu bewältigen. Daraus folgt: „Die Grenzen dieser Sphäre gemeinschaftlichen Handelns bestimmen sich also danach, inwieweit die Individuen sich über besondere Ziele einigen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich über ein besonderes Aktionsprogramm verständigen, nimmt notwendigerweise umso mehr ab, je umfassender dieses wird.“

Besonders konfliktträchtig muss sich eine gesellschaftliche Lage voraussehbar dann entwickeln, wenn der Versuch unternommen wird, ein unbestimmtes Handlungsziel – wie etwa das mit dem Namen „Gemeinwohl“ – mit demokratischen Mehrheitsentscheidungen zu definieren und anzuzielen. Ein solcher Kurs setzt nämlich mehr Übereinstimmung in den Details voraus, als dies in der Realität je unter Menschen bestehen könnte. Die Bewältigung der fehlenden Übereinstimmung bringt – durch den daraus folgenden Mangel an Respekt gegenüber individuellen Handlungsfreiräumen – dann bald auch den Charakter der Freiheitlichkeit in einer solchen Gesellschaft grundlegend in Gefahr: „Die Unfähigkeit demokratischer Körperschaften, einen anscheinend eindeutigen Auftrag des Volkes auszuführen, wird unvermeidlich Unzufriedenheit mit den demokratischen Einrichtungen wachrufen. Parlamente werden dann als nutzlose ‚Schwatzbuden‘ betrachtet. Dann gewinnt die Überzeugung Boden, dass die Steuerung aus den Händen der Politiker in die von Sachverständigen gelegt werden müsse.“

Hayek unterlegt diese Abkehr von einer freiheitlichen Gesellschaft aus individuellen Bürgern und ihren Übergang in eine kollektivistisch-fremdbestimmte Gesellschaft aus bürokratisch unterworfenen Akteuren mit einer volkswirtschaftlichen Statistik des Jahres 1928: „Wo, wie dies zum Beispiel auf Deutschland bereits im Jahre 1928 zutraf, den Behörden die Verwendung von mehr als der Hälfte des Volkseinkommens untersteht (nach einer offiziellen deutschen Schätzung waren es 53 Prozent), da sind diese Behörden indirekt die Herren über das fast ganze Wirtschaftsleben der Nation.“

Hayek mahnt, sich klarzumachen, warum es Parlamente aus diesen Gründen nicht darstellen können, das ganze Wirtschaftsleben eines Landes in allen Einzelheiten zur Staatsangelegenheit zu machen. „Jedes Mitglied der Legislative mag zwar lieber einen bestimmten Plan für die Lenkung der Volkswirtschaft als überhaupt keinen sehen, aber es ist durchaus möglich, dass keinem einzigen Plan von einer Parlamentsmehrheit der Vorzug vor völliger Planlosigkeit gegeben wird.“

Hayek sah bereits 1944 deutlich, dass die fehlenden Steuerungsmöglichkeiten in derart komplexen Systemen durch den parlamentarischen Gesetzgeber andere Regelungslösungen provozieren mussten. Schon damals erkennbar, verschiebt sich die staatliche Anordnungsmacht in diesem Falle von der schwerfälligen Legislative in die flexiblere Exekutive. „Es wird versucht, eine Ermächtigungsgesetzgebung durch den technischen Charakter der Aufgabe zu rechtfertigen. Aber das bedeutet nicht, dass nur Fragen über technische Details im Wege der Ermächtigung erledigt werden.“ Hayek zitiert aus einem britischen Regierungsbericht von 1932, dem zufolge das Parlament seine Zuflucht bereits zu diesem Zeitpunkt empirisch erkennbar in eine Praxis „wahlloser En-bloc-Ermächtigungen“ genommen hatte. Ursache dieser umfänglichen Exekutivermächtigungen sei nach dem Urteil des Berichtes gewesen, dass das Parlament jedes Jahr zu viele Gesetze erlasse, als dass sie wegen ihrer technischen Details überhaupt noch für eine Diskussion im Parlament geeignet gewesen seien.

In einem solchen Übergang der staatlichen Regulierungsmethodik – weg von allgemeinen Gesetzen aus der Feder der Legislative hin zu Einzelmaßnahmen der Exekutive – liegt indes auch ein fataler Schritt heraus aus dem Kontext des Demokratischen: „Die Übertragung bestimmter technischer Aufgaben an selbständige Instanzen ist eine gewohnte Erscheinung, und doch ist sie schon der erste Schritt auf dem Wege, auf dem eine zur Planwirtschaft übergehende Demokratie ihre Macht Stück für Stück aufgibt.“

Je chaotischer sich die Lage in einer aus unbestimmten Gemeinwohlerwägungen verwirrten Gesellschaft darstellt, desto mehr greift eine allgemeine Mutmaßung Platz, die Unordnung müsse von einem ordnenden Geist wieder beendet werden: „Immer mehr greift dann die Meinung um sich, dass die verantwortlichen Behörden von den Fesseln des demokratischen Verfahrens befreit werden müssen, wenn irgendetwas durchgesetzt werden solle. Der Ruf nach einem Wirtschaftsdiktator bezeichnet ein charakteristisches Stadium in der Entwicklung zur Planwirtschaft.“

Vergleicht man diese demokratietheoretische Analyse Hayeks aus dem Jahre 1944 80 Jahre später mit der Weltpandemie ab dem Jahre 2020, so wird deutlich: Die Ermächtigung der Exekutive und die Illusion, sachverständige Experten könnten eine globale Gesamtsituation gedeihlich ordnen, war somit ebenso erwartbar fehlgehend wie strukturschädigend für die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Staatsorganisation. Der von Hayek als „Ruf nach einem Wirtschaftsdiktator“ bezeichnete Impuls erinnert zudem fatal an die Vorstellung mancher heute umweltschützenden Zeitgenossen, es müsse nur der richtige Druck auf Menschen ausgeübt werden, um sie zur Herbeiführung von Zielen im ökologischen Gemeinwohl bewegen zu können.

Nicht wenig besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang die Diagnose Hayeks, für einen Zeitpunkt fünf Jahre nach der beschriebenen deutschen Staatsquote von 53 Prozent im Jahre 1928 zu konstatieren: „Man darf nicht vergessen, dass Deutschland schon einige Zeit vor 1933 ein Stadium erreicht hatte, in dem es diktatorisch regiert werden musste. Es stand damals außer Zweifel, dass die Demokratie auf absehbare Zeit zusammengebrochen war. Hitler brauchte die Demokratie nicht zu vernichten; er nutzte nur ihren Zerfall aus.“

Es ist, erläutert Hayek weiter, eine gefährliche Illusion, zu glauben, eine Gesellschaft könne sich erlauben, Planwirtschaft zu betreiben, solange das Ganze nur demokratisch überwacht bleibe. Ab dem Moment, in dem beauftragte Behörden in den unausweichlichen Handlungszwang kämen, zwischen verschiedenen Zielen wählen zu müssen, verliere das Parlament den eigenen Überblick und mithin auch allen eigenen überwachenden oder steuernden Einfluss auf die Lage.

Hayek prognostizierte, dass sich ein solches System auf eine plebiszitäre Diktatur hin entwickeln werde. Das freiheitlich wünschenswerte Gegenbild beschrieb er mit den Worten: „Demokratie ist nur um den Preis zu haben, dass allein solche Gebiete einer bewussten Lenkung unterworfen werden, auf denen eine wirkliche Übereinstimmung über die Ziele besteht, während man andere Bereiche sich selbst überlassen muss. Aber in einer Gesellschaft, die durch eine zentrale Planwirtschaft reguliert wird, ist es unmöglich, zu warten, bis sich eine Mehrheit findet, die sich auf solche Ziele einigen kann. Dann wird es notwendig, dem Volk den Willen einer kleinen Minderheit aufzuzwingen, weil diese Minderheit das äußerste Maximum von Individuen darstellt, das sich über eine betreffende Frage noch einigen kann. Es ist das große Verdienst des Liberalismus, dass er die Zahl der Fragen, über die man sich in einem Staat einigen musste, auf solche wenige beschränkte, für die es eine breite gesellschaftliche Übereinstimmung freier Menschen noch mit Wahrscheinlichkeit geben konnte.“

Lasse sich eine Demokratie hingegen von einer kollektivistischen Ideologie überwältigen, so schaufele sie sich damit unweigerlich ihr eigenes Grab. Hayek schließt das Kapital ab mit einigen Begriffsabgrenzungen. Er stellt klar, dass selbst eine Diktatur als solche nicht zwangsläufig alle Freiheiten insgesamt vernichten müsse. Umgekehrt aber führe Planwirtschaft gerade deswegen stets in eine dann umfassend freiheitsvernichtende Diktatur, „weil diese das wirksamste Instrument der Gewaltanwendung und der Aufzwingung von Idealen ist und als solches unvermeidlich wird, wenn eine zentrale Planung großen Stiles durchgeführt werden soll“.

Aus diesem Grunde müsse auch eine realisierte „Diktatur des Proletariats“ die persönlichen Freiheiten ebenso restlos austilgen wie die schlimmste Autokratie. Der Glaube, dass eine Regierung dann niemals eine Willkürherrschaft werden könne, wenn sie nur wenigstens das Produkt einer demokratischen Wahl sei, ist Hayek zufolge leider ebenfalls unbegründet. Denn nicht der Ursprung, sondern nur die Begrenzung von Regierungsgewalt verhindere Willkür. Wenn es sich Demokratien zur Aufgabe machen, Staatsgewalt dafür einzusetzen, um unbestimmt konturierte Ziele zu verfolgen, dann werde sich daraus Willkürherrschaft entwickeln. Allenfalls die Orientierung an festen Normen könne das verhindern.

 

Fortsetzung folgt

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