Kann den Triebfedern der Dekadenz noch Einhalt geboten werden?

Eine Buchbesprechung von Prof. Dr. Siegfried F. Franke*

2010 befand der damalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle angesichts des ersichtlich aus dem Ruder laufenden Sozialsystems, dass sich in Deutschland eine »spätrömische Dekadenz« ausbreite. Er löste damit einen veritablen Shitstorm aus, um einen Ausdruck zu gebrauchen, der im gleichen Jahr geprägt wird. Westerwelle ent­schul­digte sich drei Jahre später dafür ausdrücklich, obwohl er in der Sache zweifellos auf eine sich schon deutlich abzeichnende gefährliche Entwicklung hinwies. Bislang unwider­spro­chen griff Markus Väth im »Capital«, September 2022, den Begriff wieder auf, und »Cicero« schmückte das Titelbild der Märzausgabe 2024 mit Kabi­netts­mit­glie­dern in der Pose sorgloser Genießer. Angesichts des Gebarens der »Ampel« ist die damit verbundene Frage – »Spätrömische Dekadenz?« – bei flüchtigem Blick wohl nur rein rhetorisch zu verstehen. Allerdings wollte »Cicero« vermutlich allzu heftiger Kritik vorbeugen, denn zugleich wurde ein Beitrag des Historikers Michael Sommer präsentiert, der zwar Ähn­ichkeiten der damaligen Epoche mit der heutigen Zeit feststellt, aber zugleich hervorhebt, dass das späte Rom keineswegs dekadent war.

Auch Josef Kraus wird kaum großen Widerspruch auf sich ziehen, denn dazu ist sein »meisterhaftes« und »scharfsinniges Sittengemälde« – so Ralf Schuler in Tichys Einblick, 08.11.2024 – nicht nur außerordentlich umfassend, sondern auch gut belegt. Das Buch endet freilich bei weitem nicht mit dem hervorragend dokumentierten »Sittengemälde«, sondern arbeitet jene Umstände und Ursachen heraus, die nahezu den gesamten Westen und in Europa vor allem Deutschland in einen »Rausch der Dekadenz« versetzen.

Der Westen fällt seit langem durch eine überbordende Selbstkritik auf. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist hier zunächst die sogenannte Dekonstruktion zu nennen, die ihrerseits im Zusammenhang mit dem Kulturmarxismus à la Frankfurter Schule und dem – angeb­lich – »herrschaftsfreien Diskurs« (Jürgen Habermas) zu sehen ist. Dekonstruktion bedeutet, dass zentrale bürgerliche Begriffe und gesellschaftliche Institutionen zu »hinterfragen«, d.h., in ihre Einzelteile zu zerlegen und dann – im Lichte der eigenen Ideologie – neu wieder zusammenzusetzen sind. Im Einzelnen umgreift dies wichtige Begriffe, wie den der Familie, der Elternschaft, des Geschlechts, der Gesellschaft und den der Nation. Was den Kulturmarxismus anlangt, so ist der Einfluss von Antonio Gramsci (1891-1937) nicht zu unterschätzen, denn auf ihn geht schließlich der »lange Marsch durch die Institutionen« – populär geworden durch Rudi Dutschke – zurück. Ähnlich dachte auch Leo Trotzki (S. 224). Was Deutschland anlangt, so verstieg sich die Migrationsforscherin Naika Foroutan zu der Formulierung, dass dieses Land an sich niemandem gehöre (S. 62). Diese Aussage ist – freundlich gesagt – wenig durchdacht, denn ihr wohnt zugleich eine Abkehr von der »Nation« inne. Die Folge ist, dass dann zum einen im Hintergrund der Tribalismus im Kampf um die Besetzung und Steuerung gesellschaftlicher Institutionen lauert (Kraus zitiert in diesem Zusammenhang Rolf Peter Sieferle; S. 84 f.). Anzeichen dafür sind schon seit geraumer Zeit in Nordrhein-Westfalen und in Berlin zu sehen. Zum anderen stellt sich die Frage, warum denn dann dieses »Niemand« für alle Übel dieser Welt verantwortlich sein soll.

Die Auflösung der Nationalstaaten führt – das zeigt sich seit geraumer Zeit immer deutlicher – Kapitalisten/Superreiche und Kulturmarxisten zusammen. Vor diesem Hintergrund ist die Rede vom »Milliardärssozialismus« geprägt worden. Sie betrachten es als Vorteil, nicht durchsetzungsfähige Gruppen gegeneinander auszuspielen und sich nicht mit Regierungen auseinandersetzen zu müssen, die vom Willen der Bevölkerung getragen sind (S. 85 ff.). Kein Wunder, dass der »Milliardärssozialismus« Einfluss auf Brüssel zu nehmen sucht, denn der EU sind selbstbewusste Nationen ebenfalls ein Dorn im Auge. Milliardäre/Oligarchen gibt es auch in Russland. Allerdings ist ihr politischer Einfluss im von Putin äußerst autoritär geführtem Staat nicht nennenswert. Dement­sprechend folgert Kraus, dass der Marxismus des 21. Jahrhunderts nicht mehr aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks, sondern aus den USA komme (S. 104).

Kraus zeichnet diesen Weg und seine weiteren Bezüge zum angeblich ausschließlich dem Westen anzulastenden Nationalismus, Kolonialismus und des Sklaventums nach. Hinzu treten Ersatzreligionen wie der Klimawandel, die Geschlechtsvielfalt, Diversität und Multikulti. Zugleich sind zahlreiche »Antis« zu verzeichnen: Antifaschismus, Anti­kolonia­li­smus, Antirassismus, Antizionismus usw. (S. 134 f.). Damit einher gehen mitun­ter eine bis ins Lachhafte steigende Zahl an Auswüchsen der links-grün-woken dauerhaft empörten Kulturmarxisten, die sich im »Cancel Culture«, in der »kulturellen Aneignung« sowie in der Tilgung oder Umbenennung von Straßen, Plätzen und Namen zeigt. Das alles sei nötig, damit die »Transformation« von Gesellschaft und Wirtschaft gelinge, um Deutschland modern und freundlich – sprich: kulturmarxistisch – sowie klimagerecht zu präsentieren.

Das Lachen vergeht einem freilich alsbald, wenn man die desaströsen Auswirkungen dieser Entwicklung sieht. Oft wird in diesem Zusammenhang auf die Distanzierung von der eigenen Nation und auf die Deindustrialisierung Deutschlands hingewiesen. Ein nicht zu übersehendes Zeichen des Untergangs ist die immer öfter propagierte Sorge, dass Kinder klimaschädlich seien, andere fürchten wegen des Klimawandels Belas­tun­gen für die künftige Generation. Daher sei es geradezu geboten, auf Kinder grundsätzlich zu verzichten. Klarer lässt sich die dekadente Lust am Untergang nicht beschreiben. So weist Kraus darauf hin, dass im 7. Jahrhundert die römische Bevölkerung von einstmals zwei Millionen auf gerade noch 70.000 gesunken war (S. 17). Verständlich, dass damit nicht mehr jene Institutionen mit der erforderlichen Elite zu besetzen waren, die den Fortbestand eines kulturell und wirtschaftlich hochstehenden Weltreiches garantieren.

Von links-marxistischer Seite ist man schon seit langem Kritik an der Familie gewohnt (S. 309). Dass sich indessen die FDP, federführend durch Marco Buschmann, bis vor kurzem noch Bundesjustizminister, in Form von »Elternschaftsvereinbarungen« ebenfalls am Abriss des Familien- und Elternbegriffs beteiligt, verschlägt einem den Atem. In die gleiche Kategorie der Lust an der Verwirrung gesicherter Erkenntnisse und damit zugleich der Lust am Untergang fällt das ebenfalls von Buschmann (FDP) eingebrachte »Selbst­be­stim­mungs­gesetz«. Näheres dazu im Teil III: Ideologische Verirrungen, S. 137 ff.).

Hochbedenklich ist, dass mit dem »Selbst­bestim­mungs­gesetz« operative Geschlechts­um­wandlungen eine Stützung erfahren könnten. Ungeachtet der negativen Erfahrungen mit der berüchtigten Tavistock-Klinik in Großbritannien, gibt es zahlreiche Kliniken, die sich in Deutschland auf »Transmedizin« spezialisiert haben. Eine davon wirbt mit dem Slogan »Schritt für Schritt zum wahren Ich« (S. 158 f.). Zynisch könnte man meinen, dass »Schnitt für Schnitt zum wahren Ich« der passendere Spruch wäre.

Ein halber Lichtblick: Väth zitiert im erwähnten Artikel in »Capital«, dass eine aktuelle Studie zeige, dass Studenten der »Familie« einen hohen Wert zuweisen. Der Wermuts­tropfen dabei ist, dass sie dem beruflichen Aufstieg erheblich weniger an Wert zumessen. Wie soll jedoch ohne einen entsprechenden Leistungswillen das Wohlergehen der Familie gesichert werden?

An dieser Stelle ist der Begriff der Dekadenz näher zu beleuchten. Ober­flächlich beschreibt er den sorglosen Genuss und die Inanspruchnahme von Gütern und Dienstleistungen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass ihr Konsum auch eine nicht unerhebliche Leistungsbereitschaft voraussetzt. Eine erheblich tiefergehende Bedeutung liegt freilich in der Lust an der Zerstörung (S. 255 ff.). Diese kann zum einen als reiner Selbstzweck gesehen werden, also die pure Lust an der Zerstörung, und zum anderen in der Absicht geopolitische Ziele zu verfolgen, so z.B. der »Morgenthau-Plan«. Schließlich ist im Sinne des Kulturmarxismus die Absicht hervorzuheben, auf den Trümmern gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Institutionen eine völlig neue Gesellschaft zu errichten. Überlappungen der grob genannten Motive sind möglich, wie die folgenden Beispiele zeigen: (1) Die Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke 2022 in einer wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine drohenden Energiekrise. (2) Die Sprengung von Kühltürmen in Philippsburg (Baden-Württemberg) im Mai 2020 sowie die im August 2024 erfolgte Sprengung von Kühltürmen in Grafenrheinfeld (Bayern). (3) Die Sprengung des Schornsteins des hochmodernen Kohlekraftwerks in Hamburg-Moorburg Anfang November 2024. Ihm soll der komplette Abriss folgen, um Platz für eine Anlage zur Produktion »grünen Wasserstoffs« zu schaffen. Alle Sprengungen fanden vor begeisterten Zuschauern statt, die zudem noch Hinweise bekamen, von welchem Punkt aus sie den besten Blick auf die Sprengungen haben würden.

Angesichts dieser Beispiele und ihrer absehbaren negativen Folgen kann man – nicht ohne ein gewisses Maß an Zynismus – feststellen, dass der lange in der Versenkung verschwundene »Morgenthau-Plan« offensichtlich mit Lust und Wonne von einer links-grün-woken Elite durchgeführt und vorangetrieben wird (S. 94). Zusammen mit der erwähnten Um- und Neudeutung von Begriffen (»Cancel Culture«, »kulturelle Aneignung« usw.) kommt einem unwillkürlich der Spruch von der »Revolution, die ihre Kinder frisst« in den Sinn; aktualisiert: »Die Transformation frisst ihre Kinder«.

Kraus stellt seiner Analyse der Dekadenz zahlreiche Wege, Möglichkeiten und Mittel zur Seite, die eine Rückbesinnung auf jene Werte beinhalten, die den verhängnisvollen Hang zur Dekadenz stoppen und umkehren könnten. Dieser Umkehr ist der Teil V: Wohin am Scheideweg? (S. 281 ff.) gewidmet. Zentral dabei ist die Besinnung auf eine richtig verstandene Identität als eine gesunde Mischung von individueller und gemein­schaft­licher Identität. In diesem Zusammenhang erläutert er die verschiedenen Schichten des »Wir«; ein Begriff, der heute leider von der Politik oft missbraucht und eher in ausgrenzender Weise verwendet wird.

Die sich im Laufe der Zeit anreichernden Schichten des »Wir« beginnt mit der Familien­orientierung des Säuglings und setzt sich über den Kindergarten, den schulischen Verlauf, die Berufsausbildung bis hin zur Erkundung der Facetten der räumlichen Umgebung von Heimat, Dorf, Stadt und Region fort. Darauf aufbauend folgt später die Identifikation mit dem Volk und der Nation, ohne dabei ins Nationalistische zu fallen. Selbstbewusstsein und Fairness schließen sich nicht aus.

All das läuft auf eine Rückbesinnung und Festigung des Familien­begriffs und auf eine radikale Umkehr in der Bildungspolitik hinaus. Nur so lässt sich die »neue Unmün­digkeit«, die der »Transformationsprozess« zwangsläufig zur Folge hat und weiter haben wird, überwinden und – im Sinne Kants – eine notwendigen »Aufklärung 2.0« erreichen.

Man kann dem jüngsten Buch von Josef Kraus nur eine möglichst weite Verbreitung wünschen; ist doch anstelle des offenen Widerspruchs der »Dauerempörten« zu befürchten, dass es ignoriert wird, wobei die Ignoranz bei genauerem Hinsehen eine weitere Facette der Dekadenz ist.

Josef Kraus: Im Rausch der Dekadenz. Der Westen am Scheideweg, München 2024:
Langen Müller Verlag, 335 Seiten, 24 Euro

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*) Prof. em. Dr. habil. Siegfried F. Franke, Jg. 1942, lehrte an der Norddeutschen Akademie für Finanzen und Steuerrecht, an der Universität Stuttgart und an der Andrássy Universität Budapest. Er ist Gastprofessor an der Andrássy Universität Budapest, Mitglied der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft und Autor zahlreicher Publikationen.

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