Zur Diskussion gestellt

An dieser Stelle geben wir Raum für den gedanklichen Austausch. Die vertretenen Posi­tionen spiegeln nicht zwingend die Posi­tionen der Hayek-Gesellschaft als Ganzes wider. Es ist beab­sichtigt, die Vielfalt der Meinungen, Ideen und Kompe­tenzen unserer Mitglieder zu verdeutlichen.

Lenin und der Kassenarzt

Warum Geld das Gesundheitssystem steuern muß – und nicht der Staat
21. November 2024 Carlos A. Gebauer

Unter dem Grundgesetz haben sich in Deutschland gesundheitspolitische Wertauffassungen entwickelt. Insbesondere soll niemand krank sein oder gar sterben müssen, nur weil er arm ist. Dieses bewah­rens­werte gesellschaftspolitische Ziel kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Das geltende System der Gesetzlichen Krankenversicherung hat sich entschieden, Geld als Zahlungsmittel aus dem Gesund­heits­system praktisch vollständig zu eliminieren. Das aber muß erstaunen. Denn gerade diese Methode ist historisch definitiv als untaugliches Instrument der Wirtschafts- und Sozialpolitik erkannt. Zudem fügt sich diese Methode nicht in die ökonomischen und verfassungsrechtlichen Umgebungsbedingungen der Bundesrepublik Deutschland.

Mittlerweile ist hierzulande unmöglich, „Gesundheit“ zu sagen, ohne zugleich auch „Reform“ zu denken. Seriösen Angaben zufolge hat der Gesetzgeber in den vergangenen 25 Jahren mehr als 7000 Einzel­bestim­mungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung geändert. Demnach fällt schwer, überhaupt noch von einem „System“ zu reden. Eher angemessen erscheint, terminologisch auf Begrifflichkeiten der Chaos­theorie zurückzugreifen.

Es kann also nicht verwundern, daß auch die jüngste gesundheitspolitische Gesetzesreform des Jahres 2003 lediglich erneut eine Vielzahl von Einzelbestimmungen änderte. Ebenso sicher war damit aber schon im Vorhinein, daß jedwede Modernisierung auch dieses Mal wiederum nur die Grundlage für die nächste Reform würde schaffen können. So kam es. Und also gilt wie stets: Nach der Reform ist vor der Reform. Folglich besteht zunehmend Anlaß, hinter die Symptome des seit Jahrzehnten dauerhaft multimorbiden Systems zu blicken. Mit anderen Worten: Es besteht Anlaß, nach der Ursache seiner permanenten Funktionsschwäche zu fragen.

Angesichts des schier undurchdringlichen Dschungels von Vorschriften scheint zunächst vermessen, nach nur einer einzigen Ursache für alle Probleme fragen zu wollen. Näher liegt, gleich eine Vielzahl von Ursachen finden zu müssen. Näher liegt auch, zuvor ein unentwirrbares Knäuel von Schwierigkeiten im einzelnen betrachten zu müssen, seinerseits verheddert in den wieder und wieder geänderten gesetzlichen Regelungen. Näher liegt schließlich, die weitere Suche nach Problemlösungen getrost denen überlassen zu können, die mit profunder Sachkenntnis und spezialisiertem Detailwissen bekanntermaßen zuletzt jene 7000 Gesetze geändert haben.

Gegen den ersten Anschein lauert der gesundheitspolitische Teufel im vorliegenden Falle aber gerade nicht im Detail. Vielmehr liegt die Kernursache der Dauermalaise – wie zu zeigen sein wird – in einer Grund­prä­misse des Gesamtsystems. Der gleichsam axiomatische Fehler findet sich im Dogma vom sogenannten Sachleistungsprinzip, also in der Technik, Geld als Zahlungsmittel im System abgeschafft zu haben.

Mit diesem Prinzip ist innerhalb des Gesundheitswesens faktisch das für jede Wirtschaftsordnung maßgebliche Steuerungs- und Kontrollelement abgeschafft. Alle übrigen Probleme des Systems lassen sich – wie zu zeigen sein wird – aus diesem einen Geburtsfehler ohne weiteres herleiten. Die Theorie vom abgeschafften Geld als zentraler Problemursache im Gesundheitssystem läßt sich mit einigen Betrach­tun­gen belegen.

Grundsätzlich gilt in Deutschland das elementarste Marktprinzip. Wer eine Leistung in Anspruch nimmt, der muß für sie bezahlen. Leistungserbringer und Leistungsempfänger schließen also einen Vertrag. Die vertraglich vereinbarte Leistung wird erbracht und der Leistungsempfänger zahlt als Gegenleistung den vertraglich vereinbarten Preis in Geld.

Im staatlichen Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland gilt jedoch anderes. Eine Kassen­pa­tient, der seinen Arzt aufsucht, tritt zu ihm nicht in eine vertragliche Beziehung. Er legt lediglich seine Versichertenkarte – als eine Art Bezugsschein seiner Kasse für das laufende Quartal – vor. Die Bezahlung des Arztes wird ausschließlich von seiner Krankenkasse übernommen. Damit ist nicht nur das vertragliche Band zwischen Arzt und Patient zerschnitten. Zugleich ist damit die Chance einer ersten unmittelbaren Kontrolle über die Wertbalance zwischen Leistung und Gegenleistung – nämlich durch den Patienten selbst und seine eigene Zahlungspflicht – vergeben. Diese erste Ablösung des Gesundheitssystems von der eingangs beschriebenen, elementaren Marktregel führt zu dem Ergebnis: Der Patient kann nicht wissen, welchen Wert die erhaltene ärztliche Leistung in Geld hat. Es zahlt – vermeintlich – stets ein anderer.

Aber auch der Arzt weiß nicht, was er mit einer bestimmten Behandlung umgesetzt oder gar verdient hat. Denn der ihm vorgelegte Bezugsschein für das Quartal ermöglicht ihm nur, einen bestimmten Punktwert für die Behandlung zu vermerken. Welchen Wert dieser Punkt im Ergebnis seiner Quartalsabrechnung in Geld haben wird, erfährt er erst einige Monate nach der Behandlung. Dann nämlich rechnet seine Kassen­ärztliche Vereinigung mit ihm ab. Sie verteilt hierbei die an sie von den Kranken­kassen für ambulante Versorgung in diesem Quartal treuhänderisch gezahlte Gesamtvergütung.

Wie hoch diese Gesamtvergütung ist, weiß allerdings auch die Kassen­ärztliche Vereinigung des Kassen­arztes zum Zeitpunkt der ärztlichen Behandlung nicht. Denn die Höhe auch dieser Gesamt­ver­gütung richtet sich nicht nach dem Umfang aller erbrachten Leistungen, sondern nach den jeweiligen Einnahmen der Krankenkassen. Diese wiederum bemessen sich nach dem Umfang der aus Arbeits­ver­hält­nissen eingezogenen Krankenversicherungsbeiträge. Folglich sind nicht nur das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zwischen konkretem Arzt und konkretem Patienten voneinander abgelöst. Auch die Menge aller ärztlichen Leistungen insgesamt steht in keiner direkten Wertrelation zu der Menge aller erbrachten Geldleistungen. In der Konsequenz dieses Modells liegt, daß ein Punkt im Winter prinzipiell weniger wert ist, als im Sommer. Denn im Winter sind mehr Menschen krank und es werden mehr ärztliche Leistungen in Anspruch genommen. Zugleich folgt aus saisonbedingt höherer Arbeitslosigkeit im Winter ein geringeres Beitragsaufkommen. Umgekehrt treffen im Sommer weniger Krankheiten auf saisonbedingt mehr Arbeitsverhältnisse und damit auf höhere Beitragseinnahmen: Der Punktwert steigt. Es herrscht mithin im Ergebnis auch auf dieser Ebene eine greifbare weitere, zweite Ablösung von der elementaren Marktregel eines Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistung.

Innerhalb der Gruppe der Versicherten findet sich eine dritte derartige Ablösung von Leistung und Gegen­leistung. Während im übrigen Geschäft der Versicherungswirtschaft nämlich ein Gleichgewicht von einerseits Beitragshöhe und andererseits Wahrscheinlichkeit des eintretenden Versicherungsfalles herrscht, hängt die Beitragshöhe in dem System der Gesetzlichen Kassen von der Höhe des individuellen Arbeitseinkommens ab. Damit fingiert das System versicherungsmathematisch gleichsam eine höhere Krankheitswahrscheinlichkeit bei einem gut Verdienenden, während der schlechter Verdienende wie ein geringeres Versicherungsrisiko taxiert wird. Schon die Rede von dem gesetzlichen Gesundheitssystem als von einem „Versicherungs“-System ist daher im Prinzip mindestens ungenau, eher aber schlicht falsch: Tatsächlich sind Krankenkassen keine „Versicherung“ im eigentlichen Sinne, sie arbeiten nach völlig anderen Maßstäben und Regularien. Diese Maßstäbe stellen häufig nichts anderes dar, als Fiktionen gegen empirische Tatsachen. Der soeben beschriebene fiktiv kranke Gutverdiener und der fiktiv gesunde Schlecht­verdiener sind nur erste Beispiele dieser Realitätsferne.

Zudem führen diese versicherungstechnischen Eigengesetzlichkeiten zu weiteren, absurden Fehl­steue­rungen mit immer neuen Ablösungen im beschriebenen Sinne: Das individuelle Gesundheitsverhalten und die individuelle Kostenverantwortung beispielsweise sind ebenfalls voneinander abgelöst. Mit anderen Worten: Es fehlt jeder wirtschaftliche Anreiz zu gesunder Lebensführung. Denn der monatlich für Gesund­heitsschutz geschuldete Beitrag steht bekanntlich ausschließlich in Relation zur Höhe des Arbeits­ein­kom­mens, nicht aber in Relation zu dem eignen Gesundheitszustand. Wer weniger Kassenbeiträge bezahlen wollte, dem hilft es nicht, gesünder zu leben, sondern er müßte weniger Arbeitseinkommen erzielen.

Es bedarf keiner vertieften systemtheoretischen Erklärungen, um zu erkennen, daß ein jedes System ausschließlich dann überlebensfähig ist, wenn es sich an seinen Rändern und Außenseiten dem dort gegebenen und vorgefundenen Umfeld – also den Gegebenheiten jenseits des eigenen Systems – anpaßt. Mit anderen, bildhafteren Worten: Der beste Bergsteiger in einer Steilwand wird ersichtlich massive Probleme haben, voranzukommen, wenn er Boxhandschuhe und Taucherflossen trägt. Es wird ihm auch nicht ansatzweise helfen, mit besonders proteinreicher Kost ernährt und durch ein Satelliten-Navi­ga­tions­sys­tem informiert zu sein: Ihm fehlt schlicht der Halt an der Wand, weil er an die Umgebung außer­halb seines eigenen Körpers unzureichend angepaßt ist.

Wenn aber die Einnahme von Geld einerseits und das Ausgeben andererseits nicht ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind wie die Steilwand und das Haltezeug eines Bergsteigers, dann kommt es irgendwann unausweichlich zum Verlust jedes Haltes. In dem bestehenden System der Gesetzlichen Krankenversicherung sind Leistung und Gegenleistung aber – wie dargestellt – gänzlich voneinander abgelöst und mithin voneinander entfremdet.

Während der niedergelassene Kassenarzt seine eigenen Einnahmen vorläufig nur in gewissen Punkten nach behördlich dekretierten Bewertungsmaßstäben vergütet erhält, muß er umgekehrt seine eigenen Ausgaben – Löhne, Mieten, Strom, Gas, Wasser – mit richtigem Geld bezahlen. Hier klafft also ein Spalt zwischen der externen, wirklichen Welt und der internen Welt des Staatsgesundheits-Systems. Ein eben­solcher Spalt tut sich an den Landesgrenzen zu jedem Nachbarland auf. Denn der ausländische Arzt, der diesem besonderen, nationalstaatlichen Punkte-System nicht angeschlossen ist, akzeptiert verständ­licher­weise keine derartigen Punkte als Honorar. Folglich ist jeder Kassenpatient genötigt, vor dem Verlassen Deutschlands eine besondere Abstimmung mit seiner Kasse über die Gewährung von Versicherungsschutz auch im Ausland vorzunehmen. Es ist dies eine bemerkenswerte Konstruktion angesichts auch internationaler Freizügigkeit und einem ersichtlich alles andere als beitragsgünstigen System.

Preisfindung, Leistungskontrolle und Qualitätsüberwachung werden in diesem System also nicht durch Geld geregelt. Statt dessen sind hierfür im bundesrepublikanischen Staatsgesundheitswesen eigene, besondere Kontrollmechanismen geschaffen.

Wie dargelegt, bezahlt nicht der Patient selbst seine Rechnung, sondern eine Krankenkasse. Alle gesetz­lichen Kassen sind Behörden. Jede Behörde in einem Rechtsstaat arbeitet ausschließlich auf der Grundlage von Erlaubnistatbeständen aus Ermächtigungsvorschriften. Was der Behörde nicht ausdrücklich gesetz­lich erlaubt ist, ist ihr verboten. Daraus resultieren notwendig gewisse Schwerfälligkeiten in der Erle­di­gung des täglichen Geschäftes. Denn der Gesetzgeber kann nie vorab alle Fälle erfassen, die sich mög­licher­weise in der Zukunft ereignen und die eine Behörde zu regeln hat.

Aber nicht nur die Krankenkassen, auch die Kassenärztlichen Vereinigungen als grundsätzlich selbst­verwaltete Zusammenschlüsse aller Kassenärzte sind Behörden. Über jedem Behandlungsgeschehen zwischen Arzt und Patient wölbt sich demgemäß eine Art verwaltungstechnischer Vergü­tungs­ab­wick­lungs-Überbau, der ausschließlich aus Behörden besteht. Und da Behörden nicht immer ohne weiteres über den bei der Vergütungsorganisation erforderlichen Sachverstand verfügen, hilft ihnen hierbei bisweilen der so bezeichnete Medizinische Dienst der Krankenkassen – eine weitere Behörde. Das Zusam­menspiel dieser Behörden ist seinerseits nicht diffusen freien Kräften überlassen. Alle diese Behörden werden ihrerseits kontrolliert. Kontrollorgane sind diverse Aufsichtsbehörden auf Landes- und Bundes­ebene. Das, was Sozialministerien, Datenschützer, Medizinische Dienste, interne Wirt­schaft­lich­keits­prü­fun­gen innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen etc. bislang noch nicht ausreichend geprüft haben oder prüfen konnten, soll nach derzeitigen Plänen demnächst von einer neuen „Stiftung Warentest im Gesundheitswesen“ kontrolliert werden. Es sollte keiner weiteren Erläuterung bedürfen, daß die Hoffnung trügerisch ist, die Probleme des Systems ließen sich wenn nicht mit den sämtlichen bereits bestehenden, so aber nun ausgerechnet mit einer solchen weiteren Behörde lösen. Die gesamte Konstruktion gleicht eher einem Brei, der selbst nach immer neuen Köchen ruft.

Wer sich eingangs noch gefragt haben mag, was in einem Gesundheitssystem mit tausenden von wieder und wieder geänderten Vorschriften geregelt werden müsse, der wird in Ansehung dieser Verwaltungs-Exzesse verstehen, wo die Probleme liegen. Die vorgefundene Regelungsdichte erklärt sich geradezu aus sich selbst. Gleiches gilt für die Kostenintensität des Handelns dieser Behörden-Agglomerationen. Alleine die internen Verwaltungskosten der deutschen Krankenkassen erreichen inzwischen einen Umfang, der bald den Gesamtkosten aller deutschen Apotheken entspricht. Spätestens das nun etablierte neue Kranken­haus-Abrechnungs-System dürfte die Verwaltungskosten schon mittelfristig weiter nachhaltig in die Höhe treiben.

Aber die skizzierten Ablösungen des Systems aus seiner Umwelt und sein Eintauchen in ein Universum der realitätsfernen Eigengesetzlichkeiten beschreiben das Phänomen Gesundheitswesen noch nicht annä­hernd abschließend. Auch in seinem Inneren herrschen Regeln, die – im Vergleich zur sonstigen Welt außerhalb – schlichtweg paradox sind. Diejenigen Krankenkassen nämlich, die bezogen auf ihre eigene, individuelle Haushaltslage mehr Geld durch Beiträge einnehmen, als sie für Gesundheitsleistungen ausgeben, haben hieraus keinerlei Vorteil. Insbesondere können sie diesen Vorteil auch nicht an ihre versicherten Mitglieder weitergeben. Denn mit einem weiteren Konstrukt namens „Risiko­struktur­aus­gleich“ müssen sie ihre Mehreinnahmen an diejenigen anderen Krankenkassen abführen, die mehr ausgeben, als sie einnehmen. Böse formuliert heißt dies nichts anderes als: Von Mißwirtschaft kann man profitieren. Niemand hat je Verantwortung über eigenes Geld, weil jeder immer alles aus einer fremden Tasche bezahlt.

Das gesundheitspolitische Experiment der Bundesrepublik, Geld aus Gründen der vermeintlich höheren Gerechtigkeit abschaffen zu wollen, damit sich der Arme genauso viel Medizin leisten kann wie der Reiche, ist aus historischer Sicht allerdings ebenso verwunderlich wie gefährlich. Denn nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte wird damit versucht, einen besseren, gerechteren politischen Zustand durch die Abschaffung von Geld herbeizuführen.

Allerdings befindet sich die Bundesrepublik bei diesem Versuch in wenig schmeichelhafter Gesellschaft. Genau der gleiche Gedanke von der Abschaffung des Geldes lag nämlich auch den politischen Aktionen der russischen Revolution zugrunde.

Der sogenannte Kriegskommunismus zwischen 1918 und 1921 zentralisierte die Produktion und Verteilung von Gütern vollständig. Privater Handel wurde verboten und das Geld abgeschafft. Landwirtschaftliche Erzeugnisse mußten bei staatlichen Stellen abgegeben werden. Von dort wurden sie nach Bedürf­nis­kri­terien verteilt. Um das Eintreiben der Lebensmittel sicherzustellen, setzte der Staat Beschaf­fungs­kom­mandos ein. Mit allgemeiner Arbeitspflicht versuchte er, die infolge abgeschafften Geldes fehlende individuelle Motivation zur Produktion zu ersetzen. Denn das Problem war schnell, daß Bauern, denen regelmäßig entschädigungslos ihre Ernte requiriert wurde, nicht mehr weiter anbauen wollten – wozu auch? Ihr persönlicher Bedarf wurde ja seinerseits durch Zuteilung gedeckt.

Erst nachdem buchstäblich Millionen Menschen verhungert waren, führte Lenin höchstselbst unter der Bezeichnung „Neue Ökonomische Politik“ wieder marktwirtschaftliche Spielregeln – und insbesondere Geld als Steuerungsmechanismus der Güterverteilung – ein.

Die systematischen Parallelen zu den gegenwärtigen Schwierigkeiten des deutschen Staats­ge­sund­heits­systems sind ebenso augenfällig, wie erschreckend. Hier wie dort ist Geld als Steuerungsfunktion im Verteilungsmechanismus eliminiert, das Sachleistungsprinzip ersetzt die unmittelbare Bezahlung. Hier wie dort ist privater Handel verboten, der Kassenarzt darf keinen privatrechtlichen Vertrag mit einem Kassenpatienten über Behandlungsleistungen schließen. Hier wie dort zentralisiert sich der betroffene Markt in staatlicher Hand. Ärzte, die ohne Kassenzulassung arbeiten wollen, haben praktisch keine Existenzmöglichkeit. Schon jetzt sind 90% aller Patienten Kassenangehörige. In der Diskussion steht, ausnahmslos die gesamte Bevölkerung in das Staatsgesundheitswesen zu überführen. Die Verteilung der Leistungen erfolgt hier wie dort nach Bedürfniskriterien. Der Kassenpatient erhält medizinische Leistungen dann und nur dann, wenn sie objektiv erforderlich sind. Hier wie dort ist die Verteilung staatlich kontrolliert. Behörden überwachen die Notwendigkeit von Behandlungen und die Angemessenheit der Vergütung. Experten für medizinische, verwaltungswissenschaftliche und mikroökonomische Details schwärmen derzeit von der qualitätsoptimierenden Wirkung extensiver Totalkontrollen. Im sogenannten Hausarzt-Modell soll die freie Arztwahl des Patienten eingeschränkt werden. Man stelle sich vor, die Regierung erließe ein Gesetz, mit dem die freie Wahl des Friseurs eingeschränkt würde. Welcher Protest erhöbe sich wohl? Daß das Volk noch schweigt, erstaunt. Hier wie dort fehlt die durch Geld angestoßene individuelle Motivation für den Leistungsanbieter, seine Leistungen zu erbringen. An die Stelle von Geld als Leistungsanreiz treten Zwangsmaßnahmen wie die Drohung, bei budget-taktisch geschlossener Arztpraxis gegen Quartalsende die Zulassung entzogen zu bekommen .

Die Totalitarisierung derartiger Systeme entspringt ebenso zwangsläufig ihren eigenen Prämissen. Ebenso, wie das Sowjet-System seinen Bürgern die Ausreise verbot, droht das staatliche Gesundheits-System der Bundesrepublik seinen Kassenärzten inzwischen mit mehrjährigen Berufs- und Kontra­hie­rungs­verboten, wenn sie ihre Kassenarzt-Zulassung konzertiert zurückgeben. Selbst ganze Kassen­ärztliche Vereinigungen, die im Rahmen ihrer Selbst­ver­wal­tungs­möglichkeiten organisierten Protest übten, können nach geltendem Recht der Bundesrepublik Deutschland bereits liquidiert werden. Ebenso, wie das Sowjet-System mit weltrevolutionärem Anspruch expansive Politik betrieb, diskutieren Gesund­heits­ex­perten nunmehr sogar die totale zwangsweise Ausweitung der gesetzlichen Versiche­rungspflicht auf die ausnahmslos gesamte Bevölkerung. Folgerichtig ist daher auch, daß offen darüber diskutiert wird, private Krankenversicherungen schlicht zu verbieten.

Wer so denkt und redet, der muß wissen, daß solche Eingriffe sowohl in die Gesundheits- und Finanz-Dispositionen des Einzelnen, als auch in die Vertrags- und Eigentumspositionen der privaten Kranken­ver­sicherer nicht ohne massivste Auswirkungen auf das staatliche und verfassungsrechtliche System der Republik bleiben können.

Denn der aus juristischer und namentlich staatsrechtlicher Sicht wohl faszinierendste Aspekt dieser Phänomene ist, daß die Ausbreitung jenes planwirtschaftlichen Gesundheits-Systems sich schlechterdings überhaupt nicht in den verfassungsmäßigen Rahmen des Grundgesetzes fügt oder auch nur fügen ließe.

Während die Wirtschafts-Theoretiker der Russischen Revolution mit ihrem Kriegskommunismus in einen vergleichsweise rechtsfreien Raum vordrangen, müssen sich die Vordenker eines extensiven und expansiven Staatsgesundheitswesens in der Bundesrepublik eigentlich in den ihnen von der Verfassung gesetzten Grenzen bewegen. Die an jedem Berührungspunkt zwischen diesem Gesundheits-System und der grundgesetzlichen Rechtswirklichkeit entstehenden Konflikt- und Kollisionspunkte sind jedoch von immenser Größe. Jeder Versuch, diese Kollisionen verfassungsgemäß abzufedern und unter Wahrung der Grundrechte einer gangbaren Konkordanz zuzuführen, produziert notwendig seinerseits einen ganz umfangreichen gesetzgeberischen Aufwand. Es bedarf erheblicher Eingriffe in den Gesamtorganismus der Rechtsordnung, um deren Abstoßungsreaktionen gegen den sich ausweitenden Fremdkörper eines wirtschaftspolitischen Sondersystems im Gesundheitswesen zu unterdrücken. Die Pirouetten der Rechtsprechung zum Kassenarztrecht geben über dieses Phänomen eloquent Auskunft.

Die jahrzehntelange Novellierung von täglich einer Vorschrift ist demgemäß nicht mehr erstaunlich, sondern geradezu von vornherein in der Systematik angelegt. Die Sicherung der Existenzbedingungen eines derartigen Gesundheits-Systems als einer Art virtueller DDR inmitten einer rechtsstaatlich und prinzipiell marktwirtschaftlich organisierten Umgebung generiert zwangsläufig die ungeheuerlichsten normativen Probleme. Der Versuch, das Inkompatible kompatibel zu machen, kann aber tatsächlich allenfalls immer nur wiederholt werden. Gelingen kann ein solches Projekt nie.

Denn wie wollte man beispielsweise die verstaatlichte Bezahlung von Gesundheitsdienstleistungen organisieren, ohne daß die bezahlende Behörde eigene Kenntnis von dem einzelnen Behan­dlungs­ge­schehen hätte? Wenn sie aber solcher Kenntnis bedarf: Wie ist das Interesse des behandelten Bürgers an seinen intimen Gesundheitsdaten gegenüber dieser staatlichen Behörde effektiv zu schützen? Darf der Staat des Grundgesetzes alle Krankheiten seiner Bürger in allen Einzelheiten kennen? Wenn zutrifft, daß das Informationsinteresse des Fürsorgestaates größer ist als das eines Polizeistaates, dann muß gefragt werden: Ist das noch das System der Bundesrepublik?

Nicht weniger problematisch ist: Körper und Gesundheit des einzelnen genießen den Schutz der Grund­rechte. Wenn man den einzelnen aber zwingt, so viel Mittel seiner Arbeitskraft – also: Geld – in ein auf nur notwendige und ausreichende medizinische Zuteilungs-Versorgung beschränktes System einzuzahlen, daß ihm zuletzt nicht genug Geld übrig bleibt, um zusätzlich selbst weitere Vorsorge für individuell gewün­schte, optimierte Hilfe zu treffen, dann ist auch das verfassungswidrig. Denn es stellt nichts anderes dar, als eine Art körperlicher Teilenteignung des einzelnen.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang namentlich auch die sogenannte „Positivliste“ für Medi­ka­mente. Sie besagt bekanntlich nichts anderes, als daß staatlich dekretiert wird, welche Medikamente helfen und welche nicht. Diejenigen Medikamente, die nicht positiv auf der Liste aufgeführt werden, dürfen von Kassenärzten nicht zur Kostenlast der Krankenkasse verordnet werden. Der zwangsweise gesetzlich Krankenversicherte wird damit der Möglichkeit beraubt, zu Lasten seiner eigenen – von ihm mit erheblichen Teilen seines Einkommens finanzierten! – Kasse Medikamente zu erhalten, die er und sein Arzt übereinstimmend als für die Therapie seiner Krankheit geeignet erachten.

Geradezu perfide ist eine weitere Auswirkung dieser Konstruktion: Die Kampflinie im Streit um die Ressourcenverteilung im Gesundheitssystem verläuft nämlich damit nun exakt durch das ärztliche Behandlungszimmer. In das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten wird das Mißtrauen über die kostenunabhängige Verschreibung des richtigen Medikamentes hineingetragen. Die Positivliste verkehrt damit das Prinzip des Grundgesetzes wiederum in sein Gegenteil: Gestattet ist nicht mehr alles, was nicht verboten ist, sondern nur noch, was ausdrücklich erlaubt ist. Wer einen Kassenarzt nach alledem noch als Freiberufler mit Therapiefreiheit bezeichnet, der hat entweder nicht verstanden, oder er redet in Träumen. Gesundheitspolitik wird damit zur Nahtstelle, an der die gesamte Republik aufzuplatzen droht.

Selbstverständlich haben auch unter der Geltung des Grundgesetzes die Wahrung von Freiheits- und Eigentumsrechten nicht ausschließliche Priorität. Die Bundesrepublik ist auch ein sozialer Staat, das heißt in Freiheitsrechte darf gesetzlich eingegriffen werden, um soziale Ziele zu verwirklichen. Indes stößt diese Einschränkungsmöglichkeit ihrerseits an Grenzen, wenn die Erreichung des sozialen Zieles schlicht un­mög­lich ist, absehbar verfehlt wird und nur unter Einführung von weiteren Paradoxa gelingt.

So ist beispielsweise nicht einzusehen, warum der Geschäftsführer einer GmbH mit einem Jahres­arbeits­ent­gelt von bis zu EUR 45.900,– einerseits als so sozial schutzbedürftig angesehen wird, daß er zwangs­weise staatlich krankenversichert sein muß, andererseits aber deswegen, weil er Geschäftsführer ist, als Arbeitgeber für die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge aller anderen Arbeitnehmer seiner Firma persönlich mit seinem Privatvermögen haftet. Ist er nun also potentieller Patient, der selbst geschützt werden muß, oder ist er Arbeitgeber, vor dem andere geschützt werden müssen?

Zum Rechtsstaatsprinzip unseres Staates gehört nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­gerichtes, daß die Rechtsordnung widerspruchsfrei zu sein hat und der Normadressat nicht mit gegenläufigen Regeln konfrontiert wird. Wenn aber derjenige, der nach dem Gesetz höchstpersönlich für den Krankenversicherungsschutz seiner Mitarbeiter einzustehen hat, von demselben Gesetzgeber als zu schwach definiert wird, um seinen eigenen Krankenversicherungsschutz privat zu organisieren, dann handelt der Gesetzgeber widersprüchlich, rechtsstaatswidrig und also gegen die Verfassung.

Daß der soziale Zweck einer staatlichen Gesundheits-Sicherung in der praktizierten Weise nicht zu erreichen ist und also die Einschränkung von Freiheitsgrundrechten ungerechtfertigt ist, erweist sich nicht zuletzt aus folgender Erkenntnis: Dem bestehenden System gehörten bei seiner Gründung im Jahre 1883 nur rund 10% der deutschen Bevölkerung an. Es handelte sich um ersichtlich schutzbedürftige Menschen aus dem Niedrigstlohnsektor. Bis zum Jahr 2003 erweiterte sich der Kreis dieser Zwangsversicherten auf jetzt 90% der Bevölkerung.

Es ist nichts dafür ersichtlich, warum ein System, das mit einer 90%igen Beteiligung der Bevölkerung wirtschaftlich dauermorbid ist, es nicht auch mit einer 100%igen Beteiligung wäre. Es ist weiterhin nichts dafür ersichtlich, warum eine im Jahre 1883 zu 10% schutzwürdige Bevölkerung im Jahre 2003 zu 100% schutzbedürftig sein könnte, zumal nunmehr erkennbar ein weitaus höheres Bildungs-, Ausbildungs- und Informationsniveau dieser Bevölkerung besteht, als vor 120 Jahren.

Was also ist zu tun? Aus dem Dargelegten wird offenbar: Die prinzipielle Weigerung des bestehenden Systems, dem Patienten zu gestatten – aber auch zuzumuten – selbst Geld für Gesundheitsleistungen in die Hand nehmen zu müssen, zieht eine schier unabsehbare Reihe von Folgeschwierigkeiten nach sich. Nur wenn diese Wurzel aller Probleme beseitigt wird, kann eine nachhaltige Reparatur des verirrten Systems überhaupt gelingen.

Erst wenn sich das System besinnt, auf die Steuerungs-, Regelungs-, Kontroll- und Quali­täts­siche­rungs­funk­tio­nen von Geld zurückzugreifen, erst dann ist die Bedingung der Möglichkeit einer Neujustierung geschaffen. Wie überall sonst im Wirtschaftsleben kann der mit Geld gesteuerte Marktmechanismus instrumentalisiert werden, um einer Ressourcenverschwendung am Ursprungsort – nämlich noch im Behandlungszimmer des Arztes – entgegenzuwirken, um mutwillige Manipulationen erkennbar zu machen und um erste Qualitätskontrollen durch die Patienten selbst zu ermöglichen.

Über die Gründe, warum dies nicht längst geschehen ist, muß nicht einmal mehr lange philosophiert werden. Die kollektive Verschwendungssucht der vergangenen Jahrzehnte, die erkennbar unzureichenden systemtheoretischen, verfassungsrechtlichen und historischen Kenntnisse der gestaltenden Personen, die erheblichen eigenen Interessen der an diesem eigenwilligen Verteilungsmechanismus Beteiligten und ihr fröhlicher Tanz um das goldene Sozialversicherungsverhältnis, all diese Faktoren mögen unberücksichtigt bleiben. Entscheidend ist, daß nunmehr endlich klar und offen die Verteilungsfrage gestellt und politisch beantwortet wird.

Die Versuche, über eine Ablösung des Zusammenhanges zwischen Leistungswert und Gegenleistungswert und durch anstelle dessen reine behördliche Zuteilungsmaßnahmen die simple Wahrheit zu kaschieren, daß nichts von nichts kommt, sind beendet. Das Experiment des abgeschafften Geldes ist juristisch, ökonomisch, historisch und systematisch beendet, aber noch fehlt der klärende gesundheitspolitische Mauerfall. Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung beginnt zu erkennen, daß sie ihr eigenes Leben selbst besser und effektiver regeln kann, als mit Hilfe einer staatlichen Behörde und deren nach ver­ord­neten Bedarfskriterien zuteilenden Beamten. Wer die Bedeutung finanzieller Eigenverantwortung noch nicht kennt oder an ihrem Wert nicht glaubt, der mag auf einem Betriebsausflug seine Kollegen zu einem Essen einladen. Er wird sich wundern, wie dann selbst der sonst Sparsamste unverdrossen die besten Speisen und das teuerste Getränk bestellt.

Mit der Wiedereinführung des Geldes als Steuerungsmittel auch in das Gesundheitssystem ist ins­be­son­dere – entgegen der beliebten, gleichwohl aber insgesamt unzutreffenden Polemik interessierter Kreise – keine Aufkündigung des sogenannten Solidarprinzips oder der so bezeichneten solidarischen Finan­zie­rung verbunden. Jede private Versicherung ist eine Solidargemeinschaft. Solidarische Finanzierung bedeutet aber nicht, daß ohne jeden sachlichen Grund die Beiträge für ein Risiko ausgerechnet an der individuellen Einkommenssituation des Versicherten anknüpfen müssen.

Dabei muß insbesondere das Gesundheitssystem nicht zwingend staatlich organisiert sein. Wer wegen der unstreitig existentiellen Bedeutung der Gesundheit das Gegenteil behauptet, verkennt einen elementaren Umstand: Auch Essen und Trinken sind für Menschen existentielle Daseinsvoraussetzungen. Gleichwohl sind die Verteilung von Speisen und Getränken in Deutschland nicht staatlich organisiert und Hungersnöte blieben aus.

Schleichend hat sich über Jahrzehnte die Rede von Deutschland als von einem „Sozialstaat“ durchgesetzt. Schleichend haben sich aus dieser Rede die absurdesten Konsequenzen hergeleitet. Kaum jemand beachtet jedoch, daß unser Grundgesetz einen „Sozialstaat“ überhaupt nicht kennt. Die Verfassung will wörtlich einen „sozialen Staat“. Das aber ist markant etwas anderes, als ein Sozialstaat.

Eine Gesellschaft, die sich zunehmend individualisiert, ein Staat, der dies toleriert und multikulturelle Entwicklungen fördert, ein Gemeinwesen, das weltanschauliche Neutralität und Toleranz als Wert erkennt – warum muß in diesem Umfeld ausgerechnet das Gesundheitswesen uniformiert und gleichgeschaltet sein? Warum kann nicht hier – wie andernorts – eine effektive und kostengünstige, durch Markt­mecha­nismen preiskontrollierte, private Risikoabsicherung geschehen? Woher rührt der – durch keinerlei Fakten untermauerte und im Gegenteil durch das Marodieren ausnahmslos aller Säulen des staatlichen Sozialsystems ebenso unverständliche wie dennoch vielfache unerschütterte – Glaube an eine all­um­fas­sende Problemlösung ausgerechnet durch staatliche Behörden?

Nur eine radikale Umkehr von dem gegenwärtigen Kurs, nur ein konsequentes Abstandnehmen von jedem Gedanken an seine Fortführung, Ausweitung oder Intensivierung und nur eine unbeirrte Privatisierung können verhindern, daß die nachfolgende Generation zusammen mit dem Gesundheitssystem gleich auch den gesamten Gesellschaftsvertrag kündigt. Diejenigen, die einen marktgerechten Versicherungsbeitrag an ein privates Versicherungsunternehmen nicht aus eigener Kraft bezahlen können, verdienen Schutz und Hilfe. Sie haben Anspruch auf eine allgemein getragene – und also steuerfinanzierte – Sub­ven­tio­nie­rung, soweit die Erhaltung ihrer Gesundheit ihre wirtschaftliche Kraft übersteigt. Dies ist eine bare Selbstverständlichkeit in dem sozialen Staat unseres Grundgesetzes. Ansprüche auf Aufrechterhaltung besonderer, geldloser Wirtschaftsbiotope vom Zuschnitt des gegenwärtigen Staatsgesundheits-Systems hat aber schlichtweg niemand.

Am Ende seines Lebens – tragischerweise für das Volk mit Stalin nicht darüber hinaus – hatte Lenin die Bedeutung des Geldes als eines sozialen Steuerungsmittels verstanden und ihm in der Neuen Öko­no­mi­schen Politik seinen Platz wieder eingeräumt. Die Wirtschaft erholte sich rasch. So kann es auch mit dem deutschen Gesundheitssystem gelingen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf make-love-not-law.com.

Der gewerk­schaft­liche Streik ­– ein archaisches Relikt.

10. Januar 2024 Prof. Gerd Habermann
Foto: © Torsten Asmus

Man muß sich über den Langmut wundern, in dem eine sonst an Recht, Regel und Vertragstreue – kurz an zivilisierte Umgangsformen – gewohnte Öffentlichkeit den Einbruch mittelalterlicher Formen kruder Machtdurchsetzung hinnimmt . Normalerweise fallen Methoden wie sie namentlich die im öffentlichen Bereich tätigen Gewerkschaften, aktuell gerade die kleine Eisenbahnergewerkschaft GDL anwendet, unter die straftrechtlich zu ahnenden Tatbestände: Erpressung, Geiselnahme, Nötigung. Sie sollte für die Schäden haftbar gemacht werden können, die sie bei nichtbeteiligten Dritten anrichtet. Indessen bleibt unser GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) stumm gegen diese Art des Schädigungskampfes. Der Arbeitsmarkt wird nicht einmal als Ausnahmebereich erwähnt. Es gilt hier der Grundsatz: wer dem anderen länger den Hals zudrücken kann, hat recht. Es herrscht auf diesem Markt nicht einmal ein „Gleichgewicht des Schreckens“: die öffentlichen Arbeitgeber sind keine echte Gegenmacht gegen die Arbeitnehmerorganisation, weil sie selber nur angestellt sind und sich zur Not mit staatlichen Mitteln (über den Steuerzwang) finanzieren können. Das beeinträchtigt ihre Widerstandskraft. Auch sonst ist die Arbeitgeberseite seit langem eher auf dem Rückzug.

Der Staat versäumt hier die Durchsetzung des Rechtsfriedens. Kurt H. Biedenkopf schrieb einmal: „“Die Kartellpartner fordern und erhalten das Recht zur Privatfehde, ohne daß sie einer vollziehbaren Haftung gegenüber dem Ganzen unterworfen wären, dessen Teil sie sind. Dem Staat setzen sie ihr Recht als Private, den Privaten ihre Befugnisse als Gesetzgeber entgegen.“ Eine Sozialbindung ist hier offenbar unbekannt.

Kein echtes Gleichgewicht der Macht

In der Geschichte der Streiks kam es häufig auch schon zu physischer Gewaltanwendung, etwa von Streikposten gegen sog. Streikbrecher. Zudem ist ein so erzwungener Vertrag nicht „abdingbar“, sondern hoheitlich verbindlich für die Beteiligten und manchmal („Allgemeinverbindlichkeit“) auch für Nichttarifpartner, wobei der Ausdruck „Partner“ ein Euphemismus ist. Diese „Partnerschaft“ mit Tarifzwang hat schon oft zum Untergang von privaten Unternehmen geführt. Aber öffentliche Arbeitgeber können ja nicht sterben.

Ursprünglich war der Streik ein Notstandsrecht, als solcher im Kampf ums Überleben zu billigen. Aber worum geht es heute? Um Lohnprozente, um eine weitere Verringerung der Arbeitsstunden, um Nebenkonditionen wie Pausenregelungen.. Eine Situation, die den Gebrauch des Streiks als „ultima ratio“ rechtfertigt, ist heutzutage gar nicht mehr vorstellbar.

Der Staat unternahm bisher kaum einen Anlauf zur Kodifizierung des Arbeitskampf“rechts“. An seine Stellen treten Arbeitsgerichte als stark gewerkschaftlich beeinflußte Ersatzgesetzgeber. Es herrscht kein echtes Gleichgewicht der Macht mehr. „Aussperrungen“ seitens der Arbeitgeber kommen kaum mehr vor. Nicht einmal frivole „Warnstreiks“ sind mehr ausgeschlossen wie wir gerade erleben.. Arbeitgeberverbände, Gerichte, die allgemeine Öffentlichkeit haben das gewerkschaftliche Selbstverständnis unkritisch übernommen. So konnte sich die Lehre vom legitimen Ausnahmezustand im Bereich der Arbeitsbeziehungen durchsetzen. Rebus sic stantibus wäre eine Regelung nach Art des Schweizer Friedensabkommens wünschenswert. Hier unterwerfen sich die Tarifpartner verbindlichen Schlichtungsregelungen (bereits seit 1938). Auch eine Art Taft-Hartley-Regelung wie in den USA (1947) könnte sinnvoll sein.

Dem Ordoliberalen Alexander von Rüstow ist wohl zuzustimmen, wenn er schrieb, daß das „illiberale Wohlwollen gegenüber dem Monopolismus der Gewerkschaften“ als ein Symptom „jener subsozialistischen Knochenerweichung aus schlechtem sozialen Gewissen“ gelten könne.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Achgut.com (10.1.2024).

Warum Konservative keine Liberalen sind

9. Januar 2024 Prof. Dr. Martin Rhonheimer
Abb.: Aus Veröffentlichung Austrian Institute: Antikriegsdemons­tration in den USA, 1968: Die neomarxistische Kulturrevolution der späten 1960er und 1970er Jahre veränderte den öffentlichen Diskurs und führte in mancher Hinsicht zu einem Schulterschluss zwischen Liberalen und Konservativen. (Bild: Wikimedia Commons)

Die als Beweislastverteilungsregel bekannte Maxime, nicht wer das Bestehende bewahren, sondern wer es durch Neues ersetzen will, müsse das mit Gründen rechtfertigen, gilt als typisch „konservativ“. Die der Rechtssprache entlehnte Regel wurde allerdings in den 1970er Jahren vor allem von Liberalen ins Feld geführt, um ihren Widerstand gegen sozialistische wie auch links- bzw. sozialliberale Reformeuphorie zu begründen. Weniger zeitgeistig erregte Liberale erblickten in ihr jenes zustim­mungs­fähige Element eines damals wieder in Mode gekommenen Konservativismus, das Allianzen gegen die nach 1968 dominierenden links­pro­gres­siven intellektuellen Kräfte rechtfertigen konnte.

Konservative sind bereit, den Zwangsapparat des Staates einzuspannen, um ihre eigenen Wertvorstellungen hinsichtlich einer idealen Gesellschaft mit Gesetzeskraft allgemeinverbindlich durchzusetzen. Liberale wollen das nicht, selbst wenn sie persönlich manche dieser Wertvorstellungen teilen.

Angesichts dieser Tatsache scheint es jedoch fraglich, ob ausgerechnet die Beweislastverteilungsregel geeignet ist, den Konservativismus in seinem Wesen zu charakterisieren, wie es – aus durchaus liberaler Warte – vor kurzem Otfried Höffe mit Berufung auf Edmund Burke in der Neuen Zürcher Zeitung  getan hat. Meine Gegenthese lautet: Auf diese Weise werden Grundzüge des Konservativismus ausgeblendet und damit wesentliche Unterschiede zwischen ihm und dem Liberalismus verwischt.

F. A. Hayek: „Warum ich kein Konservativer bin“

Worin dieser Unterschied besteht, hat Friedrich August von Hayek in einem klassischen Text deutlich gemacht. Der große Liberale schloss sein erstes sozialphilosophisches Hauptwerk „Die Verfassung der Freiheit“ von 1960 mit einem berühmt gewordenen Nachwort, das den Titel „Why I am Not a Conservative“, „Warum ich kein Konservativer bin“, trägt. Gerade weil im Werk – erst recht im Spätwerk –, des österreichisch-englischen Ökonomen, Sozialphilosophen und Wirtschaftsnobelpreisträgers viele Schnittmengen mit sogenannt wertkonservativen Positionen zu finden sind, vor allem aber wegen seiner Bewunderung für Edmund Burke, wurde er vor allem im angelsächsischen Raum immer wieder unter die Konservativen gerechnet. Dagegen wehrte er sich.
Gemäß Hayek vertrat der „Old Whig“ Edmund Burke mit seiner Kritik an der Französischen Revolution eine klassisch liberale Position: Burke gehörte zur Partei, die „freies Wachstum und spontane Entwicklung“ gegen jene verteidigten, die „versuchen, der Welt ein vorgefasstes rationales Schema aufzuprägen“. In der Tat ist das auch ein konservatives Anliegen. Russel Kirk, der in seinem einflussreichen Buch „The Conservative Mind“ (1953) Burke zur Ikone der Konservativen erhob, sah in dem irisch-englischen Politiker allerdings auch den Vorreiter eines Liberalismus, dem es vor allem um den Erhalt der Freiheit geht. „Alle bedeutenden Liberalen waren Anhänger von Burke“ schrieb Kirk.

Moralische Werte statt politischer Prinzipien

Gerade deshalb erschien es Hayek wichtig, den Unterschied zwischen „liberal“ und „konservativ“ deutlich zu machen. Für Hayek lag dieser Unterschied darin, dass die Konservativen zwar moralische Überzeugungen hätten, aber keine diesen übergeordnete politischen Prinzipien. Konservative seien nämlich durchaus bereit, den Zwangsapparat des Staates einzuspannen, um ihre eigenen Wertvorstellungen hinsichtlich einer idealen Gesellschaft mit Gesetzeskraft allgemeinverbindlich durchzusetzen. Liberale wollten das nicht, selbst wenn sie persönlich manche dieser Wertvorstellungen teilen.
Was dem Konservativen also fehlt sind „politische Prinzipien“ die es „ihm ermöglichen, mit Leuten, die andere moralische Ansichten haben als er, an einer politischen Ordnung zu arbeiten, in der beide ihren Überzeugungen folgen können. Es ist die Anerkennung solcher Prinzipien, die das Nebeneinanderbestehen verschiedener Wertsysteme erlaubt und es möglich macht, mit einem Minimum an Gewalt eine friedliche Gesellschaft aufzubauen.“ Denn „für einen Liberalen bildet die Bedeutung, die er persönlich bestimmten Zielen beimisst, keine hinreichende Rechtfertigung, andere zu zwingen, ihnen zu dienen“.
Typisch für den Konservativen sei hingegen seine „Vorliebe für Autorität“. Er misstraue „abstrakten Theorien“ und „allgemeinen Grundsätzen“, wie sie in den liberalen Prinzipien zum Ausdruck kommen, und vermag deshalb auch nicht „jene spontanen Kräfte, auf denen eine Politik der Freiheit beruht“ zu verstehen. In Wirklichkeit sei der „wahre Konservativismus“ immer nur eine „Bremse am Fahrzeug des Fortschritts“ gewesen. Deshalb vertrete der Konservative „einfach eine milde und gemäßigte Version der Vorurteile seiner Zeit“.

Schöpferische Freiheit versus staatliche Anmaßung von Wissen

Der Liberale hingegen versteht sich nicht als Bremser. Denn da er sich an politischen Prinzipien der Freiheit orientiert, ist er zwar auf der Ebene der Prinzipien unnachgiebig, besitzt aber zugleich gerade aufgrund dieser Prinzipien eine große Offenheit für das noch unbekannte Neue, für Innovation und die Kräfte des Fortschritts, wie sie sich aus der Interaktion der Menschen als politische und ökonomische Akteure auf zwar regelbasierten, aber von staatlichen Interventionen unbehelligten Märkten entwickeln.
Folgt man Hayek, so setzt sich also auch der Liberale für die überlegene Vernünftigkeit des Bestehenden ein, sofern für dessen Änderung nicht gute Gründe vorliegen. Dies aber nicht, um – in „strukturkonservativer“ Manier – das „Überkommene“ und „Bestehende“ als das vermutlich Bessere zu schützen, sondern weil er der Ansicht ist, ein Staat, der gleichsam sozialplanerisch in die Gesellschaft eingreift, schalte die evolutionäre und schöpferische Spontaneität der Freiheit aus und verhindere damit wahren Fortschritt. Dieser politische Konstruktivismus beruht auf einer „Anmaßung von Wissen“: Der Anmaßung politisch-staatlicher Akteure eine noch unbekannte und unvorhersehbaren Zukunft nach ihren Plänen und Vorstellungen gestalten zu können.

Freiheit dient dem Fortschritt

Der Beweislastverteilungsregel gehört damit wesentlich auch zum Liberalismus. Liberale stimmen ihr jedoch nicht aus konservativen, sondern aus liberalen Motiven zu. Der Konservative will bremsen, weil er seiner Ansicht nach bewährte Institutionen und Strukturen erhalten will. Der Liberale – im Sinne Hayeks – will das evolutionär Entstandene vor dem innovationsverhindernden Zugriff des Staates in Schutz nehmen.
Dafür hat er auch eine Theorie: Die Theorie, dass sich Freiheit und Wohlstand dienende Institutionen in einem spontan-evolutiven Prozess herausbilden und nicht Frucht eines absichtsvollen Designs, also sozialer Planung und rationaler „Konstruktion“ sind. Aus diesem Grund wirkt der nur bremsende Konservative oft pragmatisch, der an politischen Prinzipien sich orientierende Liberale hingegen, vor allem in seiner Gegnerschaft zu staatlichen Eingriffen in die Marktkräfte, eher ideologisch oder gar dogmatisch. Denn an seinen politischen Prinzipien lässt er – im Interesse der Freiheit – nicht rütteln.
Verständlicherweise führt die gemeinsame Gegnerschaft gegen manche Formen dirigistischer und tendenziell kollektivistischer politischer Maßnahmen immer wieder zu Koalitionen zwischen Konservativen und Liberalen. Entscheidend ist jedoch, auf welchen Motiven diese Gegnerschaft und eine entsprechende Berufung auf die Beweislastverteilungsregel gründet: auf dem Glauben des Konservativen an die letztliche unhintergehbare Vernünftigkeit des Bestehenden oder, so im Falle des Liberalen, auf dem Glauben an die schöpferische Kraft der Freiheit, die immer wieder das unvorhersehbare und unplanbare Neue schafft. Wie auch immer man das sieht: Der Unterschied ist tiefgreifend.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Neuen Züricher Zeitung vom 29.12.2023/S.18 und online auf nzz.ch sowie im Blog des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy 9.1.2024

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